Auf dem Zug der Zeit

Schweigen, ab und zu Geflüster. Trauer und Finsternis mitten am Tag. Es ist schwer zu ertragen, aber wir müssen jetzt hier durch. Nur heute, dann können wir wieder verschnaufen – wenigstens so lange, bis die nächste Person unser Abteil verlassen wird. Wir fahren auf dem Zug der Zeit von Tag zu Tag, gelangen zu neuen Abschnitten, durchqueren sie, lassen sie hinter uns und kommen irgendwann an unserer persönlichen Endhaltestelle an. Erst dann steigen wir aus. Eines Tages werden auch wir sie erreichen.
Wie viele Stationen wir bis dahin zurücklegen werden? Wir können es nicht sagen. Hast du Angst, dort anzukommen? Niemand weiß, was uns erwartet.
In Reichweite steht ein Sarg. Er ist offen. Angehörige in dunklen Kleidern gehen vorbei, legen Blumen ab, verweilen still. Grenzenlose Anteilnahme erfüllt den Raum. Im Inneren liegt ein lebloser Mensch, der uns allzu bekannt ist. Weißt du noch, wie wir im Gras gelegen und die Wolken beobachtet haben? Wie wir durch Bäume getobt und von Felsen gesprungen sind? Wir dachten, wir können fliegen. Wie lange ist das her? Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Trotzdem werde ich diese Zeit nicht vergessen. Der Ausgestiegene hat mir sein Reisegepäck vermacht, diese großen Koffer voller Erinnerungen. Sie reisen mit mir zu jedem neuen Ort. Dann und wann teile ich sie mit anderen. Es ist so viel übrig geblieben.
Vor wenigen Tagen hat er den Zug verlassen. Wir alle haben die Zeichen der Zeit vernommen, das unheilvolle Signal gehört, aber auf der Liste der Aussteigenden stand lediglich sein Name. Er hatte Zeit, sich darauf vorzubereiten – immerhin das blieb ihm vergönnt. Wie es wohl für ihn war, sich zu verabschieden und dem Zug hinterherzuschauen? Was war das Letzte, das er gesehen hat? Was sieht er gerade? Zahllose unbeantwortete Fragen. Es sind die einzigen Dinge, die jeder Mensch allein herausfinden muss.
Lebewohl zu sagen ist kompliziert, manch einer ist ein Leben lang damit beschäftigt. Der Zug der Zeit nimmt keine Rücksicht darauf. Er heilt alle Wunden, wenn man lange genug wartet, sagt man. Das muss genügen. Nicht einmal heute macht er eine Pause. Unbemerkt fahren wir auch in diesem Moment, gleichwohl wir uns einbilden, für einen Augenblick innehalten zu können. Wer einmal in den Zug einsteigt, hat eine lange Fahrt vor sich. Mit jeder Stunde, die verstreicht, ändern wir uns, werden älter, sammeln neue Erfahrungen. Wir sind nicht mehr die Arglosen und Leichtsinnigen von damals. Je weiter wir fahren, desto mehr geschieht, auf das wir dereinst zurückblicken.
Erinnerst du dich an jenen Sommertag unter dem Nachthimmel? Fünf Jugendliche lagen Kopf an Kopf und benannten die Sterne nach ihren Namen. Ewige Freundschaft haben wir uns damals geschworen, niemals sollten diese Zeiten vergehen. Es ist lange her, seit ich diese Personen das letzte Mal gesehen habe. Wo sind sie bloß hin? Die Schienen wurden umgestellt – sie fahren nun anderen Zielen entgegen. Die Zeit hat unsere Wege getrennt.
Einen kurzen Blick nur werfen die meisten auf den toten Körper, mehr ertragen sie nicht. Zu schmerzhaft führt er uns die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Seine Lider sind geschlossen, die Hände ordentlich gefaltet. Ein edler Anzug bedeckt seine kalt gewordene Haut. Er sieht so friedlich aus, als träume er von unerfüllten Wünschen. Aus diesem Schlaf wird er jedoch nicht erwachen. Früher war er ein wunderbarer Mann, wissbegierig und nie um einen Witz verlegen. Jetzt ist er nichts weiter als eine tote Hülle mit dem Aussehen eines Menschen. Der Geist und alles, was ihn ausgezeichnet hat, Intelligenz, Höflichkeit, Humor, Offenheit, ist weg. Unweigerlich und für immer. Er ist genauso gegangen wie alle anderen Passagiere, deren Leben endete – Menschen, die diese Welt verschönerten oder in Chaos versinken ließen.
Wer wird unser Gepäck tragen, sobald die Zeit gekommen ist? Wollen wir das überhaupt? Eigentlich kann uns doch egal sein, was nach uns passiert. Womöglich sind wir in hundert Jahren nur noch ein Sandkorn auf diesem weiten Planet, das von Millionen anderen überdeckt wird. Unzählige Menschen sind schon mit dem Zug der Zeit gefahren, Menschen, an die nicht mehr gedacht wird. Andere werden dagegen noch Jahrhunderte leben. Es gibt keine Unsterblichkeit auf dieser Welt, aber manche haben es geschafft, ihr Gepäck rechtzeitig zu übergeben und mit möglichst vielen zu teilen. Wirst du mein Andenken weitertragen, wenn ich mein Ziel erreicht habe? Ich will nicht vergessen sein.
Erinnerst du dich an jenen stürmischen Herbsttag, an dem wir es nicht länger aushielten? Wir hatten die lange Reise satt, waren ausgelaugt, fertig und fühlten uns kühn genug, unser Ende selbst auszusuchen. In unserem Wahn hatten wir den Blick verloren für das, was vor uns lag. Wir wollten aussteigen, wir beide, noch während der Fahrt. Wir standen auf dem Zugdach, Hand in Hand, zum Absprung bereit. Dicht flogen die Bäume an uns vorbei und warfen ihr Laub über unseren Köpfen ab. Tropfen prasselten auf uns nieder, in unseren Händen flatterten die Fahrkarten, die wir nicht länger besitzen wollten. Warum haben wir es nicht getan? Wir hätten die Zeit für uns anhalten können. Was hat uns gehalten? Wir haben uns für den Zug entschieden.
Ein Laut zerreißt den dunklen Schleier, der über der angespannten Atmosphäre liegt. Eine Person sinkt zu Boden, unter ihren Händen die nassen Zeichen des Kummers verbergend. Gleichgesinnte trösten sie – sie versuchen es zumindest. Geliebt hat sie diesen Menschen, geliebt und verehrt mit jedem Bisschen an Herzblut, das in ihren Adern fließt. Nun wird ihre Liebe nicht länger erwidert, sie kann es nicht mehr, seitdem der Tod dem Liebenden den Atem nahm und das Feuer der Leidenschaft qualvoll erstickte.
Erinnerst du dich an jenen Tag im Winter, an dem unser Zug beinahe entgleist wäre? Es schneite unerbittlich, bis die Schienen vereisten und wir ins Rutschen gerieten. Ein zweiter Zug tauchte auf und berührte uns. Wir krallten uns fest an unsere Sitze, um nicht herausgeschleudert zu werden und irgendwie haben wir es geschafft. Oft schien unsere Fahrt gefährdet zu sein, aber nie zuvor war uns bewusst gewesen, wie einfach wir angehalten werden konnten. Wir fühlten uns gesund und fern der Endhaltestelle. Was sollte uns da geschehen? Dieses eine Mal waren wir ihr ganz nahe.
Wo sind die Jahre hin? Alles fühlt sich unerreichbar weit weg an. Ist nicht kürzlich erst ein neues Jahr angebrochen? Die Zeit rast vorbei. Ich bewundere all jene, denen Abschiede leichtfallen. Scheinbar mühelos beerdigen sie das Alte, während andere sich im Vergangenen verlieren. Weinst du manchmal auch, weil die „guten, alten Zeiten“ vorbei sind? Ich vermisse sie.
Erinnerst du dich an jenen Frühlingstag, als die Nacht verging und wir beschlossen, uns ins vorderste Abteil des Zugs zu stellen, dort, wo man die beste Aussicht hat? Lächelnd sahen wir der Morgenröte entgegen, deren Wärme uns umfing. So viele Stationen liegen noch vor uns, die wir kaum erahnen können. Jeder hat die Macht, seine Haltestelle selbst zu wählen. Aber wenn wir einmal ausgestiegen sind, gibt es kein Zurück, keine zweite Fahrt. Warum nicht so lange auf dem Zug bleiben, wie es geht? Wir sind nicht allein hier, Menschen sind da, Gepäck liegt ausgebreitet vor uns. Wir sind sogar in der Lage, die Ausgestiegenen zu sehen, wenn wir es wollen. Wir müssen das Beste aus unserer Fahrt machen, obschon gelegentlich jemand aussteigen muss. Es bringt nichts, in der Vergangenheit zu verharren. Sonst sehen wir nicht, wenn neue Personen unser Abteil betreten und die frei gewordenen Plätze besetzen.
Lärm. Gespräche. Überall Lachen. Helligkeit mitten in der Nacht. Die Trauernden haben sich in einem Lokal zusammengefunden. Reden, schmunzeln, scherzen, essen, trinken. Kein Tod, keine Tränen, keine schwarze Kleidung. Sie leben und feiern, als wäre nichts passiert. Als gäbe es keine Endhaltestelle, keinen Abschied.
Wie weit wir zusammen gekommen sind! Wir dachten, wir schaffen es nicht. Aber es geht immer weiter. Jeder Tunnel hat einen Ausgang.
Unverändert liegt der Gestorbene in seinem offenen, mit Blumen geschmückten Sarg. Seine Augen sind geschlossen, die Hände gefaltet, der dunkle Anzug makellos. Der Mond scheint durch ein Fenster auf das bleiche Gesicht. Jener Mann ist fort und in kurzer Zeit werden auch seine letzten sterblichen Überreste verschwinden. Er macht Platz für neue Passagiere.
Der Zug der Zeit rauscht voran.

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