Auf der großen Bühne. Bericht zum Literaturförderpreis der Stadt Mainz 2023

Vorab: Ich habe nicht gewonnen. Aber das ist in Ordnung, denn das Ergebnis fiel letztlich deutlich genug aus, um nicht übermäßig traurig darüber zu sein. Und, wie auch mehrfach am Abend betont wurde: Am Ende waren alle drei Finalisten Gewinner.

Aber zurück zum Anfang.

Im November 2022 wurde über den E-Mail-Verteiler des Instituts, an dem ich arbeite, auf den Literaturförderpreis Mainz für junge Autorinnen und Autoren aufmerksam gemacht. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir dieser Wettbewerb zuvor kein Begriff gewesen ist. Eine ehemalige Studentin des besagten Instituts hatte 2017 den Literaturförderpreis sogar gewonnen, wie mir beim Betrachten der bisherigen Gewinnerliste wieder in den Sinn kam. Aber näher befasst hatte ich mich mit dem Wettbewerb in der Zwischenzeit nicht.

Als ich las, dass die (einzigen) Teilnahmebedingungen darin bestanden, einen Mainzbezug vorweisen zu können (per Geburt oder durch längeren Aufenthalt) und jünger als 35 Jahre zu sein, war mein Interesse geweckt. Erwünscht waren Texte mit einer Maximallänge von zehn Normseiten. Ansonsten war man in seiner Kreativität vollkommen frei.

Nun kam für mich die entscheidende Frage: Was reiche ich ein? Eine Kurzgeschichte, so viel stand fest. Natürlich wäre es praktisch gewesen, einen bereits fertigen Text einzureichen, immerhin befinden sich in meiner digitalen Schublade einige fertige und unfertige Texte. Aber nach kurzer Sichtung kam ich zu dem Entschluss, dass nichts davon auch nur annähernd gut genug war, um es einzureichen. Nicht einmal nach größerer Überarbeitung.

Also neu schreiben. Praktischerweise hatte ich den für mich idealen Stoff schon in der Tasche, und er war mir erst wenige Wochen zuvor in die Hände gefallen: Am 16. Oktober 1977 – auf dem Höhepunkt des Deutschen Herbstes – lädt der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld sowie die Schriftsteller Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Max Frisch zum Gespräch nach Bonn ein, um mit ihnen über die Ursachen von Terrorismus zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt war der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer bereits seit dem 05. September von der RAF entführt. Seit dem 13. Oktober hielten palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine Landshut mit über 80 Passagieren an Bord gefangen, um die Freilassung von RAF-Terroristen zu erpressen. Krisensitzung folgte auf Krisensitzung, ein Ultimatum verstrich nach dem anderen. Und trotzdem nahm sich der Kanzler Zeit für ein solches, ausdrücklich privates Treffen.

Bis zum Herbst 2022 (zeitlich ja irgendwie passend) hatte ich von diesem Treffen noch nichts gehört, was mich im Nachhinein erstaunt hat, denn mit Böll und Frisch habe ich mich schon ausgiebiger beschäftigt (schade, dass du nicht dabei sein konntest, CJ!). Ein stichprobenartiger späterer Blick in die Suhrkamp BasisBiographie von Max Frisch zeigte mir dann auch, dass dieses Treffen dort nicht erwähnt wird. Es schien also nicht zum Standardwissen über die Beteiligten zu gehören. Ich stieß auf dieses Ereignis durch Petra Terhoevens Monografie Deutscher Herbst in Europa, die ich im Rahmen meiner Beschäftigung mit Dagmar Leupolds Roman Die Helligkeit der Nacht las. Dort werden Heinrich von Kleist und Ulrike Meinhof als Geister in der Gegenwart zusammengeführt. Sofort hat dieses Treffen mein Interesse geweckt. Dass ich mich für Schriftsteller:innen interessiere, ist ja kein Geheimnis. Immerhin schreibe ich seit fast drei Jahren darüber. Das Zusammentreffen von Literatur, Politik und Geschichte hat mich aber besonders fasziniert. Da ich dieses Ereignis für meine Doktorarbeit jedoch nicht verwerten konnte, habe ich es erst einmal in die Schublade gelegt.

Bis Mitte November 2022.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon länger keine Kurzgeschichte mehr geschrieben. Und noch nie eine, in der ein historisches Ereignis fiktionalisiert wird. Aber irgendwie hat sich dann doch alles zusammengefügt. Anfang Dezember habe ich die ersten Quellen zusammengetragen – zum Glück lag vieles digitalisiert oder in der UB Mainz vor –, dann wurde die Geschichte allmählich geplant und an Heiligabend und dem ersten Weihnachtsfeiertag (ja, was man da nicht alles so macht!) geschrieben. Stellenweise hat sich die Arbeit an der Geschichte nicht viel anders angefühlt als wenn ich ein Kapitel für die Doktorarbeit schreibe.

Mein Plan: Ein heterodiegetischer (auktorialer) Erzähler mit abwechselndem Fokus auf Schmidt, Unseld und Frisch, um alle drei Perspektiven – Politiker, Verleger, Schriftsteller – abzudecken. Praktischerweise liegen von diesen dreien auch die meisten Aufzeichnungen zu jenem 16. Oktober vor. Geschildert werden Ausschnitte des Tages. Vormittags Schmidt, der über die aktuelle Lage sinniert. Dann in Frankfurt Unseld und Frisch auf der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sowie auf der Fahrt nach Bonn. Höhepunkt der Geschichte bildet das gemeinsame Treffen im Kanzlerbungalow. Schließlich die Fahrt von Unseld und Frisch zurück. Dabei ist mir Authentizität wichtig. Handlungen, Aussagen und Gedanken der Figuren sind den Quellen zu entnehmen oder zumindest so konzipiert, dass sie passiert sein könnten. Um die tragischen Ereignisse distanziert auffangen zu können, sind immer wieder humorvolle Passagen eingearbeitet – am prägnantesten sicherlich in dem Verhältnis zwischen Unseld und Frisch. Der Titel der Kurzgeschichte Ein dramatischer Sonntag ist eine intertextuelle Referenz auf das gleichnamige Kapitel in Schmidts Reflexionen (erschienen 1996), in dem er aus seiner Sicht die Abläufe des Tages schildert.

Meine größte Zutat besteht in der Einbringung des Gegenstandes Literatur. Was kann Literatur gesellschaftlich oder sogar politisch bewirken? Diese Frage hat sich Frisch oft gestellt und sich ihr gegenüber meist utopisch-skeptisch positioniert. In der Geschichte diskutiert er sie mit seinem Verleger. Ich selbst habe mich mit ihr in der Doktorarbeit mehrfach auseinandergesetzt. Zum Zeitpunkt der Beschäftigung mit dem Stoff der Kurzgeschichte schrieb ich gerade ein Kapitel über Volker Weidermanns Buch Träumer (2017) und Christoph Poschenrieders Unsichtbarem Roman (2019), die sich beide vor dem Hintergrund der Ereignissen um die Bayrische Revolution 1918 bzw. der Münchner Räterepublik 1919 mit der Frage auseinandersetzen, wie Schriftsteller die Weltgeschichte beeinflussen können. In einem Interview verneinte Poschenrieder, dass es heutzutage solche Möglichkeiten für Schriftsteller gäbe. Seine Position wurde gewissermaßen mit zu einem Anstoß, eine gegenteilige Sicht in die Geschichte einzubringen.

Akribisch feilte ich bis in die letzten Dezembertage an der Geschichte, bevor sie Anfang Januar gedruckt werden konnte und in die Post ging. Die Texte mussten anonym eingereicht werden – meine Angst, dass die Sendung ihren Empfänger nicht erreicht, war daher groß. Aber sie kam an. Und scheinbar hat sie die Vorjury überzeugt.

Anfang März erhielt ich nach langem Bangen die Benachrichtigung, dass ich tatsächlich zu den drei Finalisten gehöre. Noch in den Tagen danach konnte ich es nicht glauben. Ich – ausgewählt? Schnell wurden zahlreiche Freunde, Kollegen und Bekannte darüber informiert. Am 19. April durfte ich in den Mainzer Kammerspielen meinen Text vortragen. Es war nicht mein erster Auftritt auf einer Bühne. Und mit Publikum habe ich in meinen Seminaren sowieso ständig zu tun. Aber aufgeregt war ich trotzdem. Denn es ist etwas vollkommen anderes, ob man nachlesbares Wissen vermittelt oder einen selbstgeschriebenen Text vorträgt. Aber, ohne überheblich klingen zu wollen, mit diesem Text habe ich mich wohlgefühlt. Wahrscheinlich habe ich vorher noch nie so viel Mühe in einen Text gelegt, weshalb ich ihn dann auch gerne vorgelesen habe. Hiermit wollte ich antreten. Dies war mein Stil.

Die Jury, die bereits im Vorfeld ihre Entscheidung getroffen hatte, bestand aus der Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse, dem Journalisten Michael Jacobs, dem amtierenden Stadtschreiber Alois Hotschnig (der an diesem Abend nicht dabei sein konnte), und der Vorsitzenden des LiteraturBüro e. V., Dr. Sigrid Fahrer. Zusätzlich stimmte das Publikum über seinen Favoriten ab.

Leider hat es für mich nicht ganz für den Hauptpreis gereicht. Drei Stimmen der Jury hat Roman Paul Widera für seine Kurzgeschichte Kaulquappen erhalten, Jan Laakmann erhielt für Ebbe die Publikumsstimme und ich bekam die Stimme von Michael Jacobs, der in seinem Votum den Bogen zur Gegenwart schlug und mit einem Seitenhieb meinte, dass sich Olaf Scholz, als er Ende Februar 2022 die Zeitenwende verkündete, sich vorher sicherlich nicht mit Literaten getroffen hatte.

Ein bisschen klang an dem Abend durch, dass meine Kurzgeschichte – zumindest für die Jury – nicht genug Interpretationsspielraum lässt. Auch erfuhr ich, dass mein Typ Geschichte so noch nicht oft eingereicht wurde. Es hat mich ohnehin gewundert, dass die Texte der beiden Mitfinalisten so gänzlich unterschiedlich sind im Vergleich zu meinem. Aber immerhin konnte ich mich gegen knapp 50 andere Bewerber:innen durchsetzen und an diesem Abend auftreten. Jemand hat mich danach sogar als persönliche Siegerin bezeichnet und wollte ein Foto von mir! Außerdem war es schön, so viele (zum Teil stadtbekannte) Menschen kennenzulernen und den ein oder anderen länger nicht mehr Gesehenen wiederzutreffen.

Vor allem aber habe ich unglaublich viel gelernt. Natürlich waren Suhrkamp und der Name Unseld mir vorher ein Begriff. Aber ich wusste nicht genau, wer sich hinter diesem Namen verbirgt und welche Beziehungen er zu Max Frisch hatte. Ähnlich erging es mir mit Siegfried Lenz und ja, auch mit dem Kanzler. Ich war schon in Bonn, mehrmals sogar. Aber nicht im (ehemaligen) Regierungsviertel. So richtig habe ich mich auch nie mit der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik befasst. Zumindest nicht gerne. Aber all das hat sich geändert. Und für mich ist dies letztlich das, was zählt.

Unselds Gedanken galten der Literatur. Der heutige Tag hatte ihn darin bestärkt, dass Literatur Einfluss haben konnte. Man musste sich nur auf sie einlassen.“


Meine Hauptquellen:
Ein besonderer Dank geht an den User „Retroversum“, der auf Youtube alte Folgen der Tagesschau eingestellt hat, und zwar erst wenige Wochen, bevor ich mit meiner Kurzgeschichte angefangen habe! Zum 16.10.1977: https://www.youtube.com/watch?v=BteQV51T2W0

Bürger, Jan: Herrenrunde mit Panzerwagen. Ein Kommentar. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 4/2010, H. 4, S. 107–110.
Unter dem Titel Als Kanzler Schmidt die Dichter um Rat fragte auch in der WELT erschienen.

Jaspers, Anke: Suhrkamp und DDR. Literaturhistorische, praxeologische und werktheoretische Perspektiven auf ein Verlagsarchiv. Berlin/Boston 2022.

Kilcher, Andreas B.: Max Frisch. Leben Werk Wirkung. Berlin 2011. (= Suhrkamp BasisBiographie)

Lettau, Reinhard: Las Vegas der Literatur. In: ZEIT (Artikel vom 21.10.1977) https://www.zeit.de/1977/44/las-vegas-der-literatur/seite-3

Magenau, Jörg: Schmidt – Lenz. Geschichte einer Freundschaft. Hamburg 2014.

März, Michael: Linker Protest nach dem Deutschen Herbst: Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des „starken“ Staates. 1977–1979. Bielefeld 2012.

Ribi, Thomas „Willen braucht man. Und Zigaretten“. Helmut Schmidt war ein politischer Pragmatiker, aber gerade in Krisen suchte er das Gespräch mit Intellektuellen. Zum Beispiel mit Max Frisch. In: Neue Zürcher Zeitung (Artikel vom 15.06.2022). https://www.nzz.ch/feuilleton/politik-ohne-utopien-was-helmut-schmidt-und-max-frisch-verband-ld.1687997

Schmidt, Bonn, Suhrkamp. Aus Siegfried Unselds „Chronik“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 4/2010, H. 4, S. 99–107.

Schmidt, Helmut: Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen. Berlin 1996.

Terhoeven, Petra: Deutscher Herbst in Europa: Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen. München 2014.

Friedenspreisreden von Frisch und Kolakowski:
https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1970-1979/leszek-kolakowski
https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1970-1979/max-frisch

Projekt, das die Ereignisse um die Landshut-Entführung interaktiv aufbereitet: https://www.landshut77.de

Rede von Bundespräsident Steinmeier auf Schmidt: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-frank-walter-steinmeier-1587466

Zur Landshut-Entführung: https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/lernort-landshut/505792/die-mediale-darstellung-der-landshut-entfuehrung/#footnote-target-9

Weiterführende Links:
https://www.literaturbuero-rlp.de/
https://www.mainz.de/kultur-und-wissenschaft/kulturelle-preise-stipendien/literaturfoerderpreis.php
https://www.literaturbuero-rlp.de/2022/literaturfoerderpreis-mainz-2023/
(dort ist meine Kurzgeschichte nachzulesen)
https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/stadt-mainz/stadt-mainz-und-literaturbuero-vergeben-foerderpreis-2484416 (Artikel in der Allgemeinen Zeitung vom 21. April. Im ursprünglichen Beitrag war zu lesen, dass ich 1986 geboren sei und der Titel der Kurzgeschichte “Ein dramatischer Samstag” laute. Dies wurde inzwischen korrigiert.)

2 comments

  • Liebe Davina, ich kann es nur immer wieder sagen: Tusch und Glückwunsch 🍾 schon einfach dafür, dass Du es unter die drei Finalist:innen geschafft hast! Und dass Du Dir dafür ein für Dich völlig neues literarisches Terrain erschlossen hast, erscheint mir der größte Gewinn! Ein Grund zum Feiern allemal!

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