Epochenüberblick 4: Sturm und Drang (1765-1785) – Die Zeit der großen Gefühle

Zum letzten Male denn, zum letzten Male schlag ich diese Augen auf, sie sollen, ach, die Sonne nicht mehr sehn, ein trüber, neblichter Tag hält sie bedeckt. So traure denn, Natur, dein Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht sich seinem Ende. Lotte, das ist ein Gefühl ohnegleichen, und doch kommt’s dem dämmernden Traume am nächsten, zu sich zu sagen: Das ist der letzte Morgen. Der letzte! […] Alles das ist vergänglich, keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoss, das ich in mir fühle. Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfasst, diese Lippen haben auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund am ihrigen gestammelt. Sie ist mein! Du bist mein! Ja, Lotte, auf ewig!
– Ausschnitt aus: “Die Leiden des jungen Werthers” (1774)

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, sind die Empfindsamkeit und der Sturm und Drang Strömungen der Aufklärung. Nur prägen diese Gattungen ein entscheidendes Merkmal. Während die Aufklärung sich strikt auf die Vernunft beruft, was zum Beispiel bei Kant sehr deutlich wird, tritt bei den folgenden Epochen nun das Gefühl dazu. “Lerne, dich selbst zu fühlen”, war Werthers Losung und auch dem Aufklärer Rousseau war es ein Anliegen gewesen, den Menschen ihre Natürlichkeit wiederzugeben.

Dass das den Aufklärern natürlich überhaupt nicht gefällt, sieht man daran, dass sehr viele von ihnen besonders den Sturm und Drang regelrecht als Krankheit bezeichneten, die irgendwann wieder vorübergeht. Autoren, die sich gegen teilweise vehement die neuen Tendenzen gewandt haben, waren unter anderem Friedrich Nicolai (1733-1811) und Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819).

Zuerst nun zur Empfindsamkeit: Diese Epoche lehnt ein rein vernunftbezogenes Handeln ab und plädiert dafür, dass Gefühl eine größere Rolle spielen zu lassen. Der bekannteste Autor dieser Zeit war wohl Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) mit seinen Messias-Gesängen und den Oden, von denen auch Musiker wie Schubert sich angetan zeigten. Obwohl seine Werke heutzutage weniger bekannt sind als sein Name, legte er den Grundstein für die Sturm und Drang-Zeit. Als weitere Schriftsteller dieser Zeit gelten Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) und Sophie von La Roche (1730–1807), einer der ersten wirklich anerkannten und bekannten weiblichen Autorinnen.

Der Sturm und Drang entwickelte sich um das 1765 herum und ist bis dato die einzige Literaturepoche, die nach einem Werk dieser Zeit benannt wurde. Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831), als Literat heute weitgehend vergessen, spiegelte mit seinem Drama Sturm und Drang nämlich genau das wieder, was diese Zeit ausmachte: Ein jünger, stürmischer Mann lehnt sich gegen die Vätergeneration auf, um seinen Willen durchzusetzen.

Gewiss, dieses Motiv findet sich in praktisch jeder Generation im Alter 16-30. Wie kommt es nun dazu, dass gerade diese Zeit zu einer prägenden Literaturepoche werden konnte? Nun, die Jugendlichen vorher, sofern es sie schon so gab, wie wir sie uns heute vorstellen, hatten vorher schlicht nicht die Möglichkeit zu rebellieren. Der Barock war von Krieg und Elend geprägt, die Aufklärung wollte die Jugend sofort bändigen und maßregeln. Des Weiteren schienen die Werke einfach den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Die beiden Autoren, die als die bekanntesten Stürmer und Dränger gelten, wurden mit ihren Erstwerken weltberühmt  und später vor allem damit in Verbindung gebracht. Die “Intelligenz” der Zeit und besonders die Aufklärung kritisierten die Stürmer und Dränger, sahen sie als Krankheit an, die vergeht, doch das Publikum feierte die Dramen der jungen Autoren.
Die Rebellionen gegen Autoritäten und alle bestehenden Ordnungen, auch gegen die Stände, sind ein zentrales Thema des Sturm und Drang, das beispielsweise in Friedrich Schillers (1749-1805) Drama “Kabale und Liebe” (1784) deutlich wird: Ferdinand, ein junger Adliger, wendet sich gegen sein Vater, weil er das arme, bürgerliche Mädchen Luise heiraten will. Dabei verhalten sich diese jungen Genies – nicht umsonst wird diese Zeit auch “Geniezeit” genannt – oft sehr egoistisch; ihr Wille zählt und nichts anderes. Sie sprengen alle Fesseln, handeln, von den Gefühlen geleitet, aus dem Affekt und weichen dem Schicksal nicht aus. In Kabale und Liebe sterben die beiden Liebenden am Ende, gleichsam liefert sich der Räuberanführer Karl Moor in Schillers “Die Räuber” (1781) aus, nachdem sein Leben buchstäblich in Trümmern vor ihm liegt, aus.
Diese jungen Männer erleben ein Auf und ab der Gefühle, das von niederschlagender Depression, über die größte Wut, zur schönsten Liebe reicht. Das Motiv des Wiedersehens, der Tränen und der Melancholie werden in vielen Werken aufgegriffen.

Als Genie bezeichnet man zu dieser Zeit jemanden, der, fast gottgleich, im Einklang mit sich selbst und der Natur lebt. Es wird also deutlich, dass die Natur ein wichtiges Motiv für die Stürmer und Dränger spielt. Nicht nur in der Romantik, wie oft angenommen wird, spielt die Naturliebe eine Rolle, auch im Sturm und Drang taucht sie auf. Ein Paradebeispiel dafür und auch generell für alle Themen dieser Zeit bildet Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) “Die Leiden des jungen Werthers” (1774). Der tragische Held Werther, der in ein kleines Städtchen zieht, um gewissermaßen ein neues Leben zu beginnen, schildert in Briefen sein tragisches Leben dort: umhüllt von der wunderbaren Natur verliebt er sich unsterblich in eine Frau, die bereits vergeben ist, wird (unabhängig davon) auf einem Empfang vom Adel aufgrund seines Bürgertums verstoßen, verfällt in Trübsinn und sieht am Ende keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Goethes Buch wird so erfolgreich, dass sich junge Männer reihenweise erschießen (der Werther-Effekt erhielt seinen Namen von ihm) und Werthers Tracht (blauer Frack, gelbe Weste) überall getragen wird.

Zum Ausdruck kommt dieses neue Lebensgefühl auch in den Formen der einzelnen Werke: noch stärker als in der Aufklärung werden in vielen den Dramen die Einheit von Ort, Zeit und Handlung über Bord geworfen, zum Teil auch die fünf Akte, und die Prosa löst das Versmaß ab. Ein bekanntes Beispiel für diese freie Form ist Goethes “Götz von Berlichingen” (1773).

Im Sturm und Drang hat vor allem Goethe, angeregt durch sein eigenes Leben, viele Werke geschaffen, von denen heute neben Werther und Götz vor allem die Sesenheimer Lieder (1770/71) und “Prometheus” (1772-1773) bekannt sind.

Auch Goethes Freunde Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) und der bereits genannte Klinger waren Autoren des Sturm und Drang. Von Lenz sind heute vor allem seine Dramen “Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung” (1774) und “Die Soldaten” (1776) bekannt. Vor allem ersteres wurde bekannt durch die Rolle des Hofmeisters, welcher sich so sehr von seinen Zöglingen angezogen fühlt, dass er sich selbst kastriert.

Schiller stieß um 1780 als einer der letzten dazu, während andere dabei waren, ihrer Sturm und Drang-Phase langsam zu entfliehen. Dennoch machte er mit seinen Räubern, dem Fiesko (1783), Kabale und Liebe sowie Don Karlos (1783-1787), das zwischen Sturm und Drang und Klassik steht, viel Furore.

Die Stürmer und Dränger, allesamt zwischen 20 und 30 Jahren alt, erweiterten das, was die Empfindsamkeit bereits begonnen hatte. Für sie war der Sturm und Drang jedoch nur eine Phase in ihrem Leben, was unter anderem auch darin Ausdruck fand, dass Autoren, die normalerweise einer anderen Epoche zugerechnet werden, manches Sturm und Drang Werk verfassten, dafür heute aber eher unbekannt sind. Viele Autoren gerieten später in Vergessenheit.
Während Literaten anderer Epochen sich ihr ganzes Leben einem Stil treu blieben, endete der Sturm und Drang als relativ kurze Epoche schon nach etwa zwanzig Jahren und die Schriftsteller wanderten weiter. Goethe und Schiller widmeten sich der Klassik, Klinger wandte sich von der Schriftstellerei ab und wurde Soldat, Lenz endete nach einem unliebsamen Leben tot in den Moskauer Gassen.

Zum Schluss möchte ich noch einmal Klinger zitieren, der in einem Aufsatz nach der Zeit des Sturm und Drang einmal auf den Punkt brachte was diese Zeit ausgemacht hat.
“Ich kann heute so gut darüber lachen, als einer; aber so viel ist wahr, dass jeder junge Mann die Welt, mehr oder weniger, als Dichter und Träumer ansieht. Man sieht alles höher, edler, vollkommener; freilich verwirrter, wilder und übertriebener. Die Welt und ihre Bewohner kleiden sich in die Farbe unsrer Phantasie und guten Glaubens, und eben darum ist dies der glücklichste Zeitpunkt unseres Lebens, nach welchem wir zu Zeiten, bei aller sauer erworbenen Klugheit, mit Verlangen zurückblicken. Vielleicht wäre diese poetische Existenz die glücklichste auf Erden, wenn sie dauern könnte. […] Erfahrung, Übung, Umgang, Kampf und Anstoßen, heilen uns von diesen überspannten Idealen und Gesinnungen […] und führen uns auf den Punkt, wo wir im bürgerlichen Leben stehen sollen.”

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