Theater verstehen – 3. Teil: Über Kritik an Inszenierungen

In meiner späten Schulzeit habe ich zwei Inszenierungen gesehen, die mein Bild von Theater sehr geprägt haben.

„Andorra“ im Kleinen Haus in Mainz

Die erste davon sah ich im November 2011. Es war die erste “richtige” Theateraufführung meines Lebens, wenn man von den Weihnachtsmärchen absieht, die ich in der Grundschule besucht habe. Als Jugendliche war ich kein wirklicher Fan des Theaters und in der Schule sind wir bis auf diese zwei Ausnahmen nicht ins Theater gegangen. Dementsprechend gespannt war ich auf das Stück.
Kleines Haus Mainz

Gezeigt wurde eine Inszenierung (d. h. Bearbeitung einer dramatischen Vorlage, nicht zu verwechseln mit der Aufführung, die das einmalige Ereignis meint) von Max Frischs Stück “Andorra”. Von meinem jetzigen Standpunkt aus zu beurteilen, war sie gut, allerdings hat mich damals verwirrt, dass die Bühne einem kargen, grauen Kasten glich, auf dem nichts an Kulissen und Dekorationen stand. Außerdem waren die Schauspieler immer sichtbar im Hintergrund zu sehen, auch wenn sie nicht aktiv an der Szene beteiligt waren. Leider haben wir das Stück in der Schule weder davor noch danach besprochen, es gab nicht mal eine Verbindung zu unseren behandelten Themen. Unsere Lehrerin wollte damals unbedingt ins Theater und ich erinnere mich, dass auch Biedermann und die Brandstifter, Kabale und Liebe sowie Götz von Berlichingen zur Auswahl standen, von denen unsere Klasse (und ich dazu) noch nie etwas gehört hatten. Die Entscheidung für Andorra war da wohl eher Zufall. Immerhin war meine danach folgende Lektüre des Stücks der Beginn meiner “Klassiker”-Leidenschaft.

Faust in Wiesbaden

Theater WiesbadenIm November 2013 war ich mit meinem Deutschkurs in einer Inszenierung von “Faust” im Wiesbadener Theater, was an sich schon fast wie ein Kulturschock gewirkt hat, denn es ist groß und prunkvoll im Vergleich zum Mainzer Theater. Dieses Mal haben wir das Drama auch tatsächlich im Unterricht behandelt, aber leider nicht die gesehene Inszenierung.

Dass bei dieser Aufführung der Darsteller der Hauptrolle ausgefallen ist, hat auch so schon für unfreiwillig komische Momente gesorgt, aber warum vor der Bühne ein Schwimmbecken aufgebaut war und die Schauspieler teilweise oberkörperfrei spielten, wurde mir im Unterricht danach auch nicht erklärt bzw. präziser: Mir wurde dafür keine schlüssige Interpretation angeboten.

Nach diesen Besuchen war ich doch sehr verwirrt, warum genau diese Arten gewählt wurden, um die Dramen zu inszenieren. Generell war ich unzufrieden damit, dass die Schauspieler keine “richtigen” Kostüme trugen und Kulissen sehr spärlich verwendet wurden. Das Studium hat mir jetzt verspätet geholfen, diese Art der Inszenierung zu verstehen.

Theater zu sehr vom Regisseur bestimmt?

Immer wieder gibt es Leute, die behaupten, dass das Theater zu experimentell geworden und die „Werktreue“ nicht mehr gewährleistet sei. Verbunden damit ist der Anspruch, dass ein Theaterstück eine Eins-zu-eins-Abbildung eines Dramentexts sei. Auch ich war damals dieser Auffassung. Für mich sollte eine Inszenierung möglichst nah am Originaltext liegen, am besten mit eindrucksvoller Requisite und aufwändigen Kostümen.

Tatsächlich kann man ein Werk nicht eins zu eins aufführen, wenn man sich bewusst macht, dass Dramentext und die Inszenierung verschiedene Medien sind und von einem unterschiedlichen Publikum konsumiert werden. “Faust” war von Goethe gar nicht für die Bühne gedacht und konzipiert. Wie soll man auch ein solch weitläufiges Werk realistisch umsetzen? Würde es schon reichen, eine Kulisse mit einem gemalten Blocksberg für die Walpurgisnacht zu gestalten, um den Anspruch einer solchen Werktreue zu gewährleisten? Trotzdem haben sich Regisseure an dieses Werk herangewagt und es auf unterschiedliche Weise zur Aufführung gebracht.

Andererseits gibt es auch Stücke, die erst nach der Uraufführung in Buchform erschienen sind. Die antiken Dramen sind das größte Beispiel für solche Stücke. Man darf nicht vergessen, dass Dramen ursprünglich zum Anschauen bestimmt waren – darin unterscheiden sie sich noch heute von Lyrik und Epik, die lediglich vorgetragen werden können. Es war damals nicht so, dass man sich allein ein Drama zu Gemüte geführt hat, Dramenaufführungen waren große Spektakel.

Wie es nun auch ist, ob ein bereits bestehendes Drama adaptiert wird oder der zu sprechende Text noch nicht veröffentlich wurde, es findet ein Transport von einem Medien in das andere statt, indem Schauspieler dem Text Leben einhauchen und die beschriebene Umgebung Wirklichkeit wird. Bei diesem Transport geht immer ein Teil verloren. So wie man bei einer Roman-Film-Adaption häufig denkt, dass die Schauspieler nicht passen, weil man sich bei der Buchlektüre seine eigene Welt erschaffen hat, läuft es auch bei einer Drama-Schauspiel-Adaption.

Und selbst wenn ein Stück möglichst nah an den Text angelegt ist, heißt das nicht, dass das Stück dadurch gut wird. Goethe höchstpersönlich hat 1808 Kleists Zerbrochnen Krug inszeniert. Das einzige, was er an dem Stück verändert hat, war, dass er aus dem Einakter einen Dreiakter gemacht hat. Sonst wurde nichts gekürzt. Das hat allerdings dazu geführt, dass das Stück sehr mittelmäßig ankam, weil es im Dramentext viele streckende Stellen gibt, die auf der Bühne eintönig wirken.

Deshalb finde ich auch den Satz „Es reicht nicht ein Drama zu lesen, man soll es auch mal auf der Bühne sehen“, den man häufiger mal hört, unzureichend. Natürlich sind Dramen zum Anschauen bestimmt und natürlich ist es immer ein Erlebnis, einen Schauspieler eine Figur verkörpert zu sehen, aber es stimmt meiner Meinung nach nicht, dass man ein Drama erst dann verstehen kann, wenn man eine zugehörige Inszenierung gesehen hat: Im Falle des Stücks „Pygmalion“ von Bernard Shaw haben die Inszenierungen jahrzehntelang sogar die eigentliche Werk und deren Intention verschleiert, indem sie stark von ihm abwichen! Dramentext und Inszenierung sind letztlich zwei unterschiedliche Kunstwerke, wobei letztere mal stärker, mal weniger stark an eine literarische Vorlage gebunden sind. 

Dramen als Zeugen ihrer Zeit

Tatsächlich gibt es Aufführungen, die auch für meinen Geschmack über die Strenge schlagen. (Wen es interessiert, kann sich mal nach der Düsseldorfer Macbeth-Inszenierung von 2005 erkundigen.) Allerdings ist es so, dass viele Werke schlecht altern. Sie sind und bleiben Produkte ihrer Zeit. Natürlich kann man eine Aufführung auch als ein Stück Vergangenheit genießen, aber Theater soll in den meisten Fällen eben nicht nur unterhalten, sondern auch Probleme aufzeigen. Und Probleme, die damals Probleme waren, sind heute vielfach keine mehr. Ein bürgerliches Trauerspiel mit Standesschranken als zentralem Dilemma ist undenkbar im 21. Jahrhundert! Dafür gab es damals noch keine Flüchtlingsdebatten.

Viele Regisseure versuchen daher aus alten Vorlagen das Allgemeingültige hervorzuheben und auf die heutige Zeit zu übertragen, wofür nicht immer prachtvolle Kostüme und aufwändige Kulissen notwendig sind (zumal vielen Theatern nur wenig Budget zur Verfügung stehen).

Im Übrigen sind „Experimente“ und der Einsatz von neuen Medien im Theater nichts Neues. Schon in der Antike wurden Hebebühnen zur Unterstützung genutzt und so sind es heute Filmprojektionen oder Ähnliches. Auch die prächtigen Kostüme und die sogenannte „Guckkastenbühne“ sind erst seit dem Barock üblich, die Raumverdunklung gibt es sogar erst seit der Avantgardebewegung um 1900! In der Antike gab es nur eine Handvoll Schauspieler, die mit Masken verschiedene Emotionen darstellten. Der heute geschätzte Brecht war der Erste, der den Illusionsbruch im Theater vorantrieb.  Führte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts am psychologisch-realistischen Spiel vorbei, geht es seitdem eher in die Richtung, die Aufmerksamkeit auf den Schauspieler an sich zu lenken. Das Theater ist eben, wie so vieles, ein Kind der Zeit.

Fazit

Damals war das Theater vielleicht frequentierter, aber nicht „besser“. Was einem gefällt, ist persönlicher Geschmack. Ich bin selbst immer noch ein Freund von schönen Kostümen, aber das Studium hat mir geholfen, einen größeren Blick auf das Theater zu erhalten und nicht jede Inszenierung abzukanzeln, die nicht sofort zu durchschauen ist.

Zum Abschluss dieser Reihe hoffe ich, dass ich mit den Artikeln für ein bisschen mehr Licht im Dunkeln sorgen konnte und zumindest einen kleinen Einblick in die Welt der Theaterwissenschaft gegeben habe :).

2 comments

  • Ja, genau das meine ich mit damit, dass Theater im Unterricht zu wenig behandelt wird. Es ist doch echt schade, wenn Menschen Theater überhaupt nicht verstehen und wertschätzen können, weil ihnen das nötige Wissen über Theater fehlt. Es geht doch so viel Arbeit in eine Inszenierung, da ist es doch echt schade, wenn der Zuschauer die Kostüme und Kulissen vermisst und dadurch kein Auge für die eigentlich schönen Dinge der Inszenierung hat… Und dass ihr nicht einmal eine Aufführung besprochen habt, nachdem ihr sie gesehen habt, zeigt ja, dass in Deutschland im Unterricht dem Theater anscheinend keinerlei Interesse zufällt. :(

    • Aber dafür wurde zu der Faust-Inszenierung eine Frage in der Klausur gestellt :D. Nur, wie will man denn so eine Frage vernünftig beantworten, wenn im Unterricht nur Eindrücke gesammelt, aber keine Interpretationsmöglichkeiten aufgezeigt wurden?

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