John von Düffel: “Goethe ruft an” – Von Leuten, die immer im Schatten stehen, anstatt selbst einen zu werfen

Zum Geburtstag dieses Jahr habe ich das Buch “Goethe ruft an” geschenkt bekommen. Versucht man hinter diesem Titel einen Sinn zu finden, wird man sich vermutlich erst einmal fragen, wie das gehen soll. Zu Goethes Lebzeiten gab es nämlich noch keine Telefone. Tatsächlich ist besagte Person nicht der „echte“ Goethe, sondern eine Person, die vom namenlosen Ich-Erzähler so genannt wird. Zur Klarheit setze ich die im Buch benannte Person Goethe in Kursiv, die historische bleibt in normaler Schrift.

Allgemeines

Goethe ruft an wurde von John von Düffel verfasst und erschien 2011 bei DuMont, 2013 bei dtv. Meine Ausgabe entstammt der 2. Auflage von 2015 von dtv.

Der Klappentext lautet:
Goethe ruft an. Er heißt nicht Goethe, aber ich nenne ihn Goethe, weil er so sehr Goethe ist, wie man heute nur sein kann. Ein Klassiker gleichsam zu Lebzeiten. Seine Lesungen, die Messen oder Rockkonzerten gleichen, sind brechend voll. Goethe kennt Gott und die Welt, und Gott und die Welt kennen Goethe, was ich von Gott, der Welt und mir nicht behaupten kann.

Inhalt

Aufgrund eines Termins bittet der Goethe genannte Schriftsteller seinen Freund, ihn in seinem Sommerkurs zum Thema „Leichtschreiben“, den er für Autoren hält, zu vertreten. Zur Unterstützung lässt er ihm über seine Sekretärin eine Mappe mit einem Manuskript zukommen, seinem „Erfolgsgeheimnis“,  das er im Kurs benutzen soll. Da es sich dabei um ein Original handelt, bittet er ihn, besonders gut darauf aufzupassen. Doch noch am selben Tag verschmiert ein Wassertropfen das Deckblatt, durch Unachtsamkeit verbrennt es später sogar.
Am nächsten Tag tritt der Erzähler seinen neuen Posten an. Unvorbereitet trifft er auf die verschiedenen Kursteilnehmer und fühlt sich ohne die Mappe hilflos. Als er am Abend reinschauen möchte, ist sie nicht mehr da. In den folgenden Tagen buhlen die Teilnehmer um das Manuskript, da sie der Meinung sind, nur durch einen Einblick in Goethes Geheimrezept vollwertige Autoren zu werden. Der Erzähler gerät wegen des verschwundenen Manuskripts zunehmend unter Druck und verwickelt sich in Lügen, bis er beschließt, es zu fälschen. Bevor aus dem gefälschten Exemplar vorlesen kann, stößt die Sekretärin seines Freundes zu ihnen, die sich ebenfalls als heimliche Teilnehmerin outet. Sie hat das Original-Manuskript dabei, das der Erzähler im Taxi vergessen hat.

Goethe – Wie das Original?

Die Person namens Goethe ist ein sehr bekannter, erfolgreicher Schriftsteller und zugleich auch Freund des Ich-Erzählers. Seine Leistungen werden folgendermaßen beschrieben:

„Darüber hinaus hat Goethe geforscht, sich politisch engagiert, Theater gemacht, Filme, Reportagen, er hat Debatten angeregt, Diskurse gestiftet, Maßstäbe gesetzt und überhaupt so universell gewirkt wie kein Zweiter in Zeiten des Spezialistentums, während ich eigentlich immer nur geschrieben habe, und nicht einmal viel, von dem Qualitätsunterschied zu schweigen. […] Seine Startauflagen, selbst bei Gedichtbänden, sind astronomisch. Seine Lesungen, die Messen oder Rockkonzerten gleichen, sind brechend voll […]. Und nicht zuletzt ist er, ohne aufdringlich zu sein, in dem ganzen Zirkus von Talkshows, Vorträgen und Workshops einer der gefragtesten und beredtsten Gästen, international.“ (S. 8)

Tatsächlich bleibt Goethe während des ganzen Romans im Hintergrund. Persönlich tritt er nie in Erscheinung, nur in drei längeren Telefongesprächen redet er selbst, zumindest in der indirekten Rede des Erzählers). Trotzdem ist er durch Erwähnungen anderer Personen und vor allem in Form seines geheimnisvollen Manuskripts stetig präsent. Es wirkt, als ob er wie ein großer Schatten über dem Schreibkurs liegt, auch ohne physisch anwesend zu sein.

Anhand eines sich auf insgesamt 27 Seiten erstreckenden Gespräch direkt zu Beginn des Buchs, in dem es eigentlich nur um Goethes Bitte um Vertretung geht, versucht der Autor, die beiden Hauptfiguren zu charakterisieren. Goethe wird dabei als fabulierender Dauerredner dargestellt, der in endlosen Dialogen ohne Punkt und Pause vom Hunderstel ins Tausendstel kommt, zu allem etwas zu sagen hat, jeden Gedanken zu Ende führt, bevor er antwortet und sich nicht unterbrechen lässt. Die Figur wirkt sehr überzeugt von sich und ihren Vorstellungen, andere Meinungen lässt sie nicht gelten. Dass der Kurs schon am folgenden Tag um 10 Uhr früh beginnt, verrät sie in seinen Endlosmonologen natürlich erst spät. Gegenüber seinem Freund verhält sich Goethe durchaus hilfsbereit. So überlässt er ihm sein exklusives, mit Tinte verfasstes Original-Manuskript, das ihm durch den Kurs helfen soll – natürlich nicht ohne zu betonen, dass er aus den anfänglichen Notizen „einen kleinen Roman in 5 Tagen“ geschrieben hat, der, wie man später erfährt, 300 Seiten stark ist.

Goethe ist also ungefähr so, wie sich der Laie den wahren Goethe klischeehaft vorstellt: Berühmt, erfolgreich, arrogant, selbstverliebt.

Eckermann – Nichts als eine Kopie?

Sein Freund, den Goethe – wie man später erfährt – insgeheim Eckermann nennt, nach dem Vorbild des Sekretärs des realen Goethe, ist Ich-Erzähler und Mittelpunkt des Romans. Bereits am Anfang wird deutlich, dass er sich im Vergleich zu seinem Freund absichtlich geringschätzt. So erklärt er, dass beide zwanzig Jahre zuvor angefangen haben zu schreiben. Die Werke seines Freundes füllen bereits eine Gesamtausgabe von 12 Bänden, seine hingegen nicht mal einen. Während Goethe gefeiert und geliebt wird, hält er sich zurück und betont dafür immer wieder, dass er seit mehreren Jahren an „etwas Größerem“ arbeite, wobei das nur ein vorgeschobener Grund für seine Unlust und Demotivation ist.

Auch im restlichen Roman ist er der Ewig-im-Schatten-Stehende, dessen Repliken sich meistens nur auf Antworten und kurze Kommentare beschränken. Er ist das aber nicht unbedingt, weil Goethe so erfolgreich ist, sondern weil er sich mit dessen Erfolg vergleicht und verunsichern lässt. Wie eine Marionette willigt er in alles ein, was sein “großer” Freund ihm aufträgt.

Generell fiel es mir schwer, mich in den Erzähler hineinzuversetzen oder ihn auch nur im Ansatz sympathisch zu finden. Er beschädigt das so wertvolle Original bereits nach fünf Minuten, verschläft die Kurstermine und wirkt teilweise vertrottelt.

Ist er da, Schwamm, […] will er Ihnen etwas antun? – Nein, sagen Sie jetzt nicht ja, sondern, äh, grün. […] Okay, vergessen Sie’s, sagen Sie einfach nur, äh, mit “Milch und Zucker”, wenn ich den Sicherheitsdienst und die Polizei rufen soll. […] Oder wollen Sie lieber erst mal nur „mit Milch?“ (S. 242)

„[…] als mir auf einmal der Bettkasten einfällt, mein Gott, bei der ganzen Manuskriptsucherei der letzten Tage habe ich nie an den Bettkasten gedacht, warum bin ich nicht eher darauf gekommen, denke ich und stürze voller Hoffnung in den Schlafzimmerbereich auf den weichen Teppich neben meinem Bett, das, wie ich feststellen muss, gar keinen Bettkasten hat.“ (S. 246)

Er nennt sich selbst Schriftsteller, schafft es aber nicht, den Schreibkurs zu leiten, weil er sich ohne Manuskript verloren fühlt. Er fügt sich seiner „Stellvertreter-Rolle“ fast perfekt, indem er Goethe nachahmen will, anstatt etwas Eigenes zu etablieren. Natürlich kann man sagen, dass er sich nicht vorbereiten konnte. Aber als Schriftsteller hat er nicht einmal eine gefestigte Meinung, nur wenige klare Aussagen kommen überhaupt aus seinem Mund. Er traut sich nicht, die Wahrheit bezüglich des verschwundenen Originals zu sagen und will eigentlich auch nur mit einer Kursteilnehmerin ins Bett.
Als er beschließt, das Original nachzumachen, hat er nicht die Intention, etwas Neues zu schaffen. Er betrachtet sein Schriftstück immer nur als Kopie seines Freundes, nicht als seines, obwohl es seine Gedanken sind, was auch niemandem auffällt.

Trotzdem hat er manchmal auch ein paar lichte Momente. So erkennt er am Ende selbst, dass er immer versucht hat, ein anderer zu sein, der nicht mit seiner Stimme seine Geschichten erzählt, sondern mit einer Fremden fremde Geschichten, und das alles, weil „ich mein Leben lang so sein wollte wie er, weil ich glaubte, wie er sein zu müssen, immer, wenn ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, habe ich mich an etwas Größeres, Goethegleiches gesetzt, anstatt meine eigene kleine Geschichte zu erzählen […] sogar bei meinen Hilferufen habe ich versucht, so wie Goethe zu klingen, weil ich glaubte, nur gut zu sein, wenn ich so klinge wie er, ich habe mein ganzes Schriftstellerleben lang nicht ein einziges Mal meine Stimme gehört, ich könnte kaum, sagen, wie sie klingt, womöglich würde ich sie nicht einmal erkennen, und doch ist alles, was ich jetzt noch in mir spüre, meine Angst um sie, diese tiefe namenlose Angst zu sterben, ohne auch nur ein einiges Mal meine Stimme gehört zu haben.“ (S. 249)

Ob er diese Erkenntnis auch umsetzt und tatsächlich aus dem Schatten seines Freundes heraustritt, bleibt offen.

Die anderen Teilnehmer

Literatur ist ein großes Thema im Buch. Zentraler Ort des Geschehens ist ein fiktives Hotel in der Lausitz, in dem fünf Teilnehmer für fünf Tage zusammenkommen, Schreibübungen machen und eigene Romanprojekte vorstellen. Dabei kommen durchaus einige interessante Gedanken und Dialoge zustande. Immer wieder spielt die Wichtigkeit des ersten Satzes eine Rolle, der den ganzen Inhalt eines Romans enthalten soll. (Der erste Satz dieses Romans ist übrigens auch der Romantitel.)

Die Kursteilnehmerin Hedwig Courths-Mahler ist Unterhaltungsliteratin, die unter verschiedenen Pseudonymen bereits in allen möglichen Genres Bücher mit über sechshundert Seiten veröffentlicht hat. Sie ist auf der Suche nach der wahren, tiefgründigen Literatur und möchte das „Tiefschreiben“ erlernen. Um ihre Ziele zu erreichen, setzt sie gerne ihre Reize ein. Angeblich hatte sie schon etwas mit jedem Mann im Hotel.

„Schreiben heißt Leiden, das ist doch die herrschende Meinung, wenn ein Roman kein Martyrium war, taugt er nichts, und ein Autor, der nicht vom ersten bis zum letzten Satz am Rande des Wahnsinns oder Selbstmords steht, ist kein wirklicher Autor, oder sehen Sie das anders?“ (S. 125)

„Schreiben ist für mich wie Träumen mit offenen Augen, halb Wünschen, halb Wundern, und wenn ich einmal angefangen habe, ist jedes Buch ein Traum, aus dem ich erst wieder erwache, wenn der letzte Satz geschrieben ist […].“ (S. 127)

Schwamm (zeitweise auch Ustinov genannt) ist Literaturkritiker, Goethe treu ergeben, aber ein Feind des Ich-Erzählers. Er bestreitet, dass Karl May in eine Reihe mit Goethe, Schiller, Büchner, Kleist und anderen gehört und verzweifelt daran, eine Fortsetzung zu Winnetou zu schreiben. Für eine Weile verschwindet er und taucht später völlig verwirrt und im Indianerkostüm wieder auf.

Marlies Rottenmeier ist Naturlyrikern und sucht nach der Nähe in der Welt, für ihren Mann Hermann dagegen, der im Laufe des Romans als schwul geoutet wird, ist Entfernung das zentrale Thema, vor allem die Entfernung von der Gesellschaft durch seine sexuelle Ausrichtung.

„Ich weiß, Gedichte sind peinlich, niemand weiß das besser als ich, es gibt heutzutage nichts Peinlicheres als ein Gedicht, weil wir so viel Nähe nicht mehr ertragen, aber genau darum geht es, genau das ist der Punkt, Gedichte müssen peinlich sein, uns zu nahe treten, schließlich haben sie nichts zu erzählen, nichts Neues zu verkünden, sie wollen erinnert werden wie etwas, das wir einmal waren oder hätten sein können und das wir verlernt und vergessen haben, seit sehr langer Zeit …“ (S. 202)

Das geheime letzte Mitglied ist die Assistentin von Goethe, Frau Eckermann, die ebenfalls Teilnehmerin des Sommercamps ist und war. Sie arbeitet an einem Buch zu Eckermann.

Von Nachmachern, „Kopisten“ und Im-Schatten-Stehern

Nachahmung versus eigenständiges Schaffen ist die zentrale Thematik, die über das Buch hinaus auf ganz viele Lebensbereiche anwendbar ist.

Es ist gut, wenn man Vorbilder hat, mögen das nun Sänger, Schriftsteller, Maler, Sportler oder auch die eigenen Eltern sein. Man kann sie verehren, sich von ihnen inspirieren lassen und sich vielleicht als Ziel setzen, ebenso berühmt zu werden. Aber man wird niemals als eigenständige Persönlichkeit akzeptiert und Erfolg haben, wenn man sich auf die Fahne schreibt „ein zweiter Kafka zu werden“ oder den nächsten Faust zu produzieren. Man merkt es schon am Ausdruck: Ein zweiter Kafka. Ein nächster Faust. Nicht den ersten Kafka, denn den gab es ja schon. Aber warum nur der zweite sein, warum nicht der/die erste Maier, den man für seine Fähigkeiten bewundert? Man will doch erfolgreich sein für das, was man geschaffen hat, und nicht für das, was man nachmacht.

Wenn man jemanden nachahmt, egal auf welche Weise, wird man automatisch verglichen und man selbst vergleicht sich natürlich auch. Meistens stürzt einen das in die Verzweiflung, weil man nicht auf Anhieb so erfolgreich ist und keine Anerkennung bekommt. Jedes Leben wird eben nur einmal gelebt. Weder Kafkas posthumer Erfolg oder Goethes Lebensweg sind wiederholbar.

Zum Thema Vergleich sagt der Ich-Erzähler im Buch sehr treffend:

„Aber gerade darin besteht ja die Gefahr, in unserem literarischen Anlehnungsbedürfnis, unserer verheerenden Autor- und Autoritäten-Hörigkeit, die nichts ist als Angst, in Gläubigkeit verwandelte Angst, unsere Angst vor der Freiheit, die so groß ist, dass wir stattdessen lieber den Kopf einziehen und uns in den Vergleich ducken, uns schreibend vergleichen und vergleichen lassen, als stünden wir mit jedem Wort in einem Schönschreibwettbewerb mit Goethe, den wir gar nicht gewinnen können, weil wir uns schon vergleichen, bevor wir überhaupt angefangen haben, weil unser erster Satz in Wahrheit immer schon ein zweiter, ein Nach-Goethe-Satz ist […] Wir haben es uns selber zuzuschreiben, weil nur eines noch schwerer wiegt, noch tiefer sitzt als unser Vergleichswahn und das ist unsere Freiheitsangst!“ (S. 247)

Die Geschichte zeigt häufig genug, dass nicht die im Gedächtnis bleiben, die nachgeahmt haben. Hat Goethe jemanden nachgeahmt? Nein, er hat geschrieben, was ihn bewegt und prägte nebenbei damit eigene Epochen. Leute haben ihm nachgemacht, sich nach Werthers Vorbild gekleidet, sich auf die Fahrt nach Weimar gemacht, um Audienz bei ihm zu erbitten.
Goethe wurde im Laufe der Zeit auf einen Thron gehoben, zum „Dichterfürst“ gekrönt. Sehr wahrscheinlich hat er diese Rolle, in die er gepresst wurde (an der er aber gewiss auch nicht ganz unbeteiligt war), irgendwann angenommen und wirkte vermutlich deshalb des öfteren Mal so abgehoben und reaktionär, wie man ihn sich so vorstellt und wie er teilweise schon von Zeitgenossen geschildert wurde.
Im Buch heißt es dazu: Goethe (hier wieder auf historische und fiktive Person beziehbar) hingegen sei erfolgreich, „weil er sie nämlich hat, die eigene Stimme, […] weil es gerade das eigene, sehr Persönliche ist, das in seiner Literatur universal wird …“ (S. 252)

Fast alle Figuren wollen im Laufe des Buchs das Manuskript, Goethes geheimnisvolle und erfolgsbringende „Roman-Formel“, die sie angeblich besser machen soll. Teilweise versuchen sie ihn auch nachzumachen, indem sie genau die gleiche Anzahl an Bahnen im Hotelpool schwimmen oder das Gleiche essen. Die Figur Hedwig bekommt vom Ich-Erzähler einen Teil des gefälschten Manuskripts, aber anstatt dort die gewünschte Tiefe zu finden, ist sie nach der Lektüre nichts als ein blasses Überbleibsel von sich selbst, nur noch mehr verunsichert über ihr eigenes Talent. Im Grunde genommen ist der ganze „Leichtschreiben“-Kurs zum Scheitern verurteilt. Anstatt ihren eigenen Stil zu formen, nehmen sich die Teilnehmer ihren Leiter als Vorbild.
Schließlich bleibt nur die Erkenntnis: Es gibt keine Geheimformel, kein Rezept für Erfolg. Das, was ihm Manuskript steht, ist Goethes Auffassung, seine Motivation. Aber was für ihn gilt, kann nicht für alle gelten.

Diese gilt übrigens nicht nur für Goethe/GoetheGenerell ist es eine Eigenschaft der Figuren im Buch, andere mit Spitznamen zu versehen. Neben den bereits Genannten wird ein Angestellter des Hotels Gründgens genannt, ein weiterer Wieland. Frau Rottenmeier ist aufgrund ihrer Strenge nach jener Figur aus Heidi benannt, Hedwig Courths-Mahler nach der gleichnamigen Groschenromanautorin. Dies führt manchmal absichtlich dazu, das nicht klar getrennt ist, ob die historische Person gemeint ist oder die Figur, besonders was Goethe angeht. Noch gesteigert wird dies darin, dass Goethes Assistentin ein Buch über Eckermann schreibt und der Goethe genannte Schriftsteller ein Buch über Goethe.

Einer der zentralen und für mich entscheidendsten Sätze des Romans, der diese ganze Problematik noch einmal zusammenfasst, wird gegen Ende vom Ich-Erähler geäußert, der erklärt, warum aus ihnen allen nichts werden kann, solange sie versuchen, ein Vorbild zu kopieren:

„[W]ir sind Teil einer gigantischen Begabungsverzerrung […], die Goethe vielleicht nicht so gewollt hat, die aber von ihm ausgeht und sich immer weiter potenziert zu einem schwarzen Literaturloch, […] und man kommt ihm zu nahe, unweigerlich, weil er ja überall und immer schon da ist, mit seiner universal-genialen Ausdehnung als der Dichterfürst, der er ist, nicht weil er es so will, sondern weil wir ihn so wollen, weil wir uns nichts mehr wünschen, nichts mehr herbeisehnen als jemanden, der uns sagt, wie wir zu schreiben haben, wie man schreibt, dabei ist die Wahrheit, die nackte, ernüchternde Wahrheit, dass es keiner weiß, wissen kann, niemand außer uns, und wir wissen es auch nicht, wir ahnen es nicht einmal, die meiste Zeit, das Einzige, das wir haben, ist die Freiheit, es herauszufinden unter Millionen von Möglichkeiten des Scheiterns …” (S. 246)

„Satirischer Witz“? Zum Roman & Fazit

Abseits dieser Thematik offenbart der Roman leider einige inhaltliche Schwächen.

Zum einen bleibt das Ende zu offen. Das Originalmanuskript ist zwar wieder da, aber es fehlt immer noch die erste, verbrannte Seite. Kann der Ich-Erzähler sie nachahmen? Wird es bemerkt? Man erfährt keine Reaktion von Goethe (dem dieses Manuskript ja immerhin ziemlich wichtig war), stattdessen bahnt sich auf der letzten Seite eine Liebesbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler und Frau Eckermann an, die nur darauf beruht, dass sich beide gegenseitig Eckermann nennen …?

Spannung sucht man um Buch vergebens. Die Handlung plätschert vor sich hin, es gibt keinen richtigen Höhepunkt, kein packendes Ende. Selbst die Suche nach dem verlorenen Manuskript und der Beschuldigung verschiedener Teilnehmer gestaltete sich für mich als langweilig, weil mich der Erzähler so genervt hat, dass ich nicht mit ihm mitfiebern konnte. Viele Gespräche sind mühsam und langatmig – nicht zuletzt, weil sich der Erzähler für die indirekte Rede entschieden hat – und gerade das einleitende Gespräch mit Goethe wirkt auf mich viel zu gewollt.

Vielleicht muss der Roman aber auch nicht spannend sein. Liest man ihn bewusst als Parodie auf den Goethe-Kult, der schon zu Goethes Lebzeiten einsetzte (während des Vormärzes zwar etwas einbrach, aber spätestens danach umso inbrünstiger begangen wurde), ist es ein durchaus gelungenes Buch, in dem man über manche fehlenden Aspekte hinwegsehen kann. Vielfach wurde und wird Goethe auf einen Thron erhoben, von wo er herhalten muss für zahlreiche Ansichten und Klischees, ohne dass sich genauer mit seinen Werken auseinandergesetzt wird. Als Verkörperung dieses Aspekts erscheint auch die Figur Goethe im Buch: Er ist ein erfolgreicher Autor und allein deshalb wird er seiner menschlichen Eigenschaften beraubt und in ein gleißendes Licht gestellt, von wo ihn alle ehrfürchtig betrachten. Davon, dass auch nur eine Figur im Roman dessen Werke gelesen hat, ist nicht die Rede.

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