Tausend Meter

Noch einmal gehe ich tief in mich; versuche mich zu entspannen und mich auf das vorzubereiten, was mich gleich erwarten wird. Konzentriert horche ich auf das Pochen meines Her­zens, welches gleichmäßig schlägt. Dann ertönt das Geräusch. Automatisch laufe ich meinem Ziel entge­gen, das genau tausend Meter von mir entfernt liegt. Noch weiß ich nicht, ob ich es schaffe und das Ziel wirklich erreichen werde. Es sind lange tausend Meter, denn der Weg erscheint endlos im glei­ßenden Licht der Mittagssonne. Ich versuche meine Kräfte aufzusparen, dabei habe ich nur wenig Zeit, um die tausend Meter zu überwinden – genau vier Minuten. Schaffe ich es nicht, würde dies nur Schlechtes für mich bedeuten. Aber ich bin ehrgeizig und will nicht versagen.
Mittlerweile habe ich bereits hundert Meter zurückgelegt, und noch fühle ich mich optimistisch. Ich bin gut dabei und ziemlich schnell unterwegs. Während ich aber meine Schritte mitzähle, spüre ich ihn langsam aufkommen. Noch lauert er im Dunkeln und hält sich zurück, weil es ihm Spaß macht, mich so zu quälen, mich so einzunehmen und Besitz von mir zu ergreifen. Ich versuche ihn zu unterdrücken und ihn zu ignorieren, aber es geht nicht. Er ist da. Unaufhörlich läuft er nun mit mir die restlichen siebenhundert Meter.
Bald kann ich ihn einfach nicht mehr aus meinem Kopf verbannen. Wie eine große Spinne lässt er einfach nicht von mir los. Hör auf, sagt er mir. Hör auf, schreit er. Aber mein Ehrgeiz lässt dies  nicht zu. Wie ferngesteuert bewegen sich meine Beine dem Ziel entgegen. Wenn doch nur die Sonne nicht wäre, dieser hitzebringende Stern. Es ist Mittag und die Wärme brennt mir unangenehm auf der Haut. Selbst der Wind, der in Pfeilen um mich herum schießt, bringt keine Kühlung.
Nun ist die Hälfte des Weges vorbei. Eine leidvolle erste Hälfte und der Rest steht mir noch bevor. Mein Ziel habe ich schon vor Augen. Ich Sehe es in der heißen Luft flimmern und spüre, wie es mich ruft, wie es mich schon erwartet, wie ich es sehnsuchtsvoll erwarte.
Vierhundert Meter. Ich bemerke wie ich unaufhörlich langsamer werde, aber nach wie vor bin ich am Laufen. Meine Beine hören einfach nicht auf zu arbeiten, ertragen immer noch diese Pein. Wieder ruft er, aber ich bin nicht in der Lage es zu verarbeiten. Mein Gehirn kann keine Informationen mehr auf­nehmen. Das Ziel ist alles was ich verlange; alles, was ich in diesem Moment begehre.
Dreihundert Meter. Mein Herz schlägt schnell. Ich habe Angst, das es mir aus der Brust springen könnte. Aber mein Herz ist leer. Es empfindet zurzeit keine Emotionen und ist quasi ausgeschaltet. Alles was in diesem Moment arbeitet, ist mein krankhafter Ehrgeiz, der mich vorantreibt.
Hundert Meter. Hör auf. Hör endlich auf zu laufen. Du schaffst es nicht. Gib auf, ruft er wieder. Verschwinde!, schreie ich ihm nun entgegen. Viel Kraft hatte mich dieses Wort gekostet. Zu viel. Ich stolpere und fast hätte er mich gehabt und sein Ziel erreicht. Aber ich falle einfach nicht. Ich laufe weiter. Schrille Laute höre ich. Erst nach ein paar Sekunden wird mir klar, dass sie aus meiner Kehle kommen, aus meiner ausgetrockneten und nach Wasser dürstenden Kehle.
Diese Hitze! Wann hört sie denn endlich auf? Diese Qualen! Wann werde ich endlich von ihnen er­löst? Eine Stimme ruft mir zu, dass ich noch schneller laufen soll. Aber das bin nicht ich, und er ist es auch nicht. Es ist eine andere Stimme. Meine allerletzten Kräfte mobilisiere ich und öffnete Kraftreserven, um die Vier-Minuten-Marke doch noch zu schaffen.
Mit meinen letzten Atemzügen schleppe ich mich ins Ziel und falle kaputt auf den Grund. Sobald ich zu Boden gehe, war er weg. Einfach verschwunden im Nichts! Genauso schnell gegangen, wie er gekommen war. Mein Ehrgeiz hatte ihn schlussendlich wohl doch besiegt.
Jemand sagte etwas zu mir, und es waren lo­bende Worte, aber ich hörte nicht genauer hin. Das Einzige was zählte, waren mein Stolz und die Freude, die mich nun übernahmen, dass ich es doch geschafft hatte.

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