Die Identifikation eines Autors mit seiner Figur

Meine Schulzeit ist noch nicht allzu lange her, deshalb erinnere ich mich noch gut an den Deutschunterricht, in dem alle Arten von Epik, Dramatik und Lyrik interpretiert und analysiert wurden. Jedes Mal hat man einen Text vor sich, einen Titel, vielleicht eine Jahreszahl und – den Autor. Ohne ihn gäbe es den Text nicht, daher kommt ihm eine zentrale Rolle beim Betrachten des Textes zu. Leider haben wir im Unterricht die Autoren meist zugunsten der jeweiligen Epoche verschmäht, aus der wir uns – überspitzt gesagt – die am besten passenden Schlagwörter aussuchen und auf den Text anwenden sollten. Allerdings waren es die Schriftsteller selbst, die die Epoche geprägt haben, die Eigenschaften wurden erst später isoliert. Wer versucht, bei Hölderlin die gleichen Schlagwörter zu verwenden wie bei Brentano, weil sie beide ungefähr in der gleichen Epoche gelebt haben, wird nicht weit kommen.

Ich lehne es ab, einen Text ohne seinen spezifischen Autor zu betrachten, weil es meines Erachtens immer einen Zusammenhang gibt. Der kann auffällig sein oder nicht. Montauk von Max Frisch beruht beispielsweise auf realen Erlebnissen, wenngleich natürlich künstlerisch verarbeitet und teilweise auch durch die eigenen Erinnerungen verwischt. Ein Autor wie Schiller hingegen hat keine direkten Lebensereignisse verarbeitet – wohl wird man aber aufgrund seiner pathetischen Schreibweise sehr leicht einen seiner Texte als einer der seinen erkennen. Weniger auffällig ist es, wenn Figuren bestimmte Eigenschaften haben. Wem ist es nicht schon mal aufgefallen, dass Stephenie Meyers Werke auf ihren eigenen, mormonischen Lebenseinstellungen beruhen oder dass in den Büchern von Mann, Brecht oder Dürrenmatt ständig Leute am Rauchen sind, ohne dass dafür ein Grund bestände? Vermutlich haben die betreffenden Autoren einfach einen zugehörigen Teil aus ihrer eigenen Lebenswelt niedergeschrieben, ohne sich näher darüber Gedanken zu machen, ob diese Tätigkeit eine bestimmte Bedeutung hat. Da ich mich selbst schriftstellerisch betätige, merke ich auch an mir immer wieder, dass ich die Menschen häufig nicht so gestalte, wie sie in meiner Lebenswirklichkeit vorkommen, sondern so, wie ich sie gerne hätte, dementsprechend spielt das Rauchen bei mir keine Rolle. Das heißt nicht, dass man nicht auch Geschichten schreiben könnte, in denen Figuren solche Attribute verpasst bekommen. Ich möchte nur aufzeigen, dass man beim Schreiben manche Eigenschaften, die im Alltag gehäufter vorkommen, auslässt, weil man sie nicht im Fokus hat.

Auch Tonis und meine erfundenen Figuren haben eine Verbindung zu uns, sei es, dass man ihnen Charaktereigenschaften oder ein Äußeres gibt, das einem gut gefällt bzw. von jemandem inspiriert ist oder dass die Welt, in der sie leben, nach eigenen Vorstellungen geschaffen ist. Aber wie eng ist die Bindung an eine Figur wirklich? Ist Harry Haller wirklich Hermann Hesse, Werther Goethe oder der Heinrich aus dem Buch der Lieder Heinrich Heine? Schon in der Schule wurden wir oft genug darauf hingewiesen, dass das lyrische Ich nicht der Autor ist und das lyrische Du nicht unbedingt derjenige, der in diesem Moment das Gedicht liest. Aber was ist in dem Fall, wenn ein Autor wirklich sich schildert, wie etwa in einem autobiografischen Werk?

Einen zwar nicht inhaltlich, aber strukturellen Ansatz gibt das Fachgebiet der Narratologie, die versucht, Strukturen zu finden, um eine Erzählung (d. h. die Vermittlung einer Geschichte) zu beschreiben. Strukturell gesehen ist nach diesen Theorien der Autor weder der Erzähler noch irgendeine Figur, sondern derjenige, der die Geschichte niederschreibt. Mehr nicht. Der Erzähler wiederum kann eine Figur sein, muss aber nicht, je nachdem, ob es sich um eine Ich- oder Er-Erzählung handelt. Kafkas “Prozeß” handelt von Josef K., dessen Leben von einem Er-Erzähler (auch: heterodiegetischer Erzähler) erzählt wird. Dementsprechend bietet der Autor Kafka nur den Rahmen, ohne selbst mitzuwirken.

Bei Ich-Erzählungen (homodiegetisch) wird das Ganze etwas komplizierter, vor allem bei Autobiografien. In “Dichtung und Wahrheit” sind Autor, Erzähler und Figur Goethe. Erzähltheoretisch besteht hier trotzdem der Unterschied zwischen den einzelne Instanzen, zumal der Erzähler von einem bereits vergangenen Goethe erzählt, der mehrere Jahrzehnte in der Vergangenheit lebte. Inhaltlich gesehen handelt es sich aber um eine Person, die – ausgeschmückt und nicht unbedingt vollständig – von seiner Vergangenheit erzählt.

Letztlich entscheidet jeder Autor selbst, wie viel “Ich” er in seinen Geschichten verewigt. Das muss nicht heißen, dass jedes Ich oder jede Figur auf einer realen Basis beruhen (das ist, was die Deutschlehrer dieser Welt uns deutlich machen wollen). Wenn Eichendorff in seinen Naturgedichten ein lyrisches Ich sehnsüchtig die Natur beschreiben lässt, heißt das nicht, dass Eichendorff selbst durch die Natur gewandert ist und von seinen Erlebnissen schreibt, ebenso ist das Liebchen in Heines Gedichten nicht jedes Mal eine reale Frau – aber vielleicht müssen sie das auch gar nicht, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Genauso wenig heißt es aber auch, dass Josef K. aus dem Prozeß oder K. aus Kafkas Schloss nur zufällige Namen sind. Natürlich kann man sagen, dass Kafka gerade nichts Besseres eingefallen ist – aber dann hätte er die Figuren auch R. oder S. nennen können.

Manchmal ist eine Figur wie ein “Alter Ego” oder die Personifikation einer bestimmten Eigenschaft bzw. eines Gefühlszustandes. Manchmal versteckt der Autor sich selbst oder einen Teil von sich in einer selbst erschaffene Welt. Manchmal ist es auch weniger. Trotzdem ist immer eine Verbindung zum Autor nachzuweisen und wenn es auch nur ein spezieller Sprachstil (wie bei mittelalterlichen Autoren, von denen man praktisch nichts weiß) oder Vorlieben für manche Wörter sind. Wenn man die Augen offen hält, stößt man immer wieder auf solche Eigenheiten.

Stefan Bollmann schrieb in seinem Buch “Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist” meines Erachtens sehr treffend in Bezug auf Goethe – Werther: “Goethe weiß sehr gut: Er ist nicht Werther. Aber auch der arme Juristenkollege Jerusalem, der in jungen Jahren seinem Leben ein Ende gesetzt hat, war nicht Werther. Werther ist eine poetische Gestalt, genährt vom Herzblut des Autors und von Geschichten, die das Leben schrieb. […] Werther ist das Ergebnis einer Transformation: der Verwandlung von Wirklichkeitsbruchstücken in eine poetische Gestalt, die – einmal gebildet – in der Lage ist, aus sich heraus zu existieren.” (S. 264)

Ist das Schöne an der Literatur nicht deshalb das Geheimnisvolle, dass man nicht jeden Text sofort versteht, sondern immer wieder Neues zu entdecken hat?

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