Epochenüberblick 9: Realismus/Naturalismus (1848-1890) – So echt wie möglich
»Gefiel dir Effi? Gefiel dir die ganze Geschichte? Sie war so sonderbar, halb wie ein Kind, und dann wieder sehr selbstbewusst und durchaus nicht so bescheiden, wie sie’s solchem Manne gegenüber sein müsste. Das kann doch nur so zusammenhängen, dass sie noch nicht recht weiß, was sie an ihm hat. Oder ist es einfach, dass sie ihn nicht recht liebt?«
– Ausschnitt aus: Effi Briest
Der Realismus entwickelte sich vor dem Hintergrund der Aufstände in Deutschland, aber auch zu Zeiten der aufkeimenden Industriellen Revolution. Die Daguerreotypie, ein Vorläufer der Fotografie wurde erfunden, die Eisenbahn verdrängte zunehmend die Kutsche und erste große Fabriken entstanden.
Der Realismus verstand sich als Epoche, die das Chaos der Romantiker aufräumen wollte. Anstelle von ausgedachten Traumwelten oder optimalen Zuständen, sollte die Realität mit allen guten und schlechten Seiten aufbereitet werden. Man lehnte sich auf künstlerische Weise der Wirklichkeit an, ohne sie jedoch so genau wie möglich darstellen zu wollen. Das Reale, das das ganze Leben umfängt, diente von sich aus nur als Grundlage, die vom Schriftsteller verarbeitet wurde. Es ging also nicht unbedingt darum, die Wirklichkeit originalgetreu darzustellen, sondern sie poetisch zu verarbeiten, weshalb diese Zeit auch oft “Poetischer Realismus” genannt wird.
Die Epik wurde zum hauptsächlichen Sprachrohr dieser Zeit, denn es entstanden vornehmlich Romane und Novellen. Ein bekannter Novellenautor war Gottfried Keller (1819-1890), der “Kleider machen Leute” (1874) schuf. Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) schildert in seiner Novelle “Das Amulett” (1873) die Bartholomäusnacht in Paris.
Außerdem entstanden viele Gesellschaftsromane, die näher in das Leben von Familien blickten. In Entwicklungsromanen stand eine Person im Mittelpunkt, deren Leben von jung bis alt beschrieben werden. Beispiele dafür sind Theodor Storms (1817-1888) Werk “Der Schimmelreiter” (1888), in dem das Leben von Hauke Haien beschrieben wird, der als junger Mann von seinem Vater das Amt des Deichgrafen übernimmt und schließlich daran zugrunde geht. Auch Wilhelm Raabes (1831-1910) “Der Hungerpastor” (1864) schildert den Werdegang eines jungen Mannes.
In Theodor Fontanes (1819-1898) Roman “Effi Briest” (1894/1895) steht das junge Mädchen Effi im Zentrum, die einen Mann heiratet, den sie nicht mag und der sie wiederum nicht respektvoll behandelt, sodass sie eine folgenreiche Affäre beginnt und Effi als ausgestoßene, ungeliebte Frau endet. Der Journalist Fontane avancierte mit weiteren Romanen und Balladen wie “Die Brück’ am Tay” (1880), “John Maynard” (1886) oder “Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland” (1889) zu einem Hauptvertreter dieser Zeit.
Ein besonderer Literat dieser Zeit ist wohl der Zeichner und Dichter Wilhelm Busch (1832-1902), der mit seinen humoristischen, satirischen und spöttischen Werken zu einem der bekanntesten deutschen Schriftsteller wurde. Noch heute wird seine Arbeit “Max und Moritz” von vielen Kindern gelesen.
Ein spezieller Abschnitt des Realismus, der hier nicht unerwähnt bleiben soll, stellt der Naturalismus dar, der hauptsächlich von Gerhart Hauptmann (1862-1946) vertreten wurde. Naturalismus bedeutet grundsätzlich, das ein reales Ereignis möglichst genau und ohne ideelle Ausschmückungen dargestellt werden soll, was er mit seinem Drama “Die Weber” (1892) über den Weberaufstand 1842 verwirklichte.