Kleine mittelhochdeutsche Reihe: 2. Ausspracheregeln
uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit
von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.
Dies ist der Anfang des Nibelungenlieds der Edition C, der sicherlich vergleichsweise bekannt ist. Für uns „neuhochdeutsche Menschen“ sieht dieser Text komisch aus. Alles wird kleingeschrieben, wir haben Ligaturen und Vokale mit Zirkumflex (^). Trotzdem scheinen uns viele Wörter vertraut vorzukommen, manche aufgrund der Schreibweise, andere, wenn man sie auszusprechen versucht.
Von dieser Beobachtung ausgehend, wollen wir uns noch vor der Grammatik und der Bedeutung mit der Aussprache beschäftigen. Von der mittelhochdeutschen Sprache liegen uns natürlich keine originalen Tonaufnahmen vor. Bei den folgenden Regeln sollte daher immer bedacht werden, dass es sich um textbasierte Rekonstruktionen handelt, die sich auf ein normalisiertes Mittelhochdeutsch (vgl. letzter Artikel) beziehen.
Auch wenn es heutzutage primär darum geht, mittelhochdeutsche Texte zu übersetzen und nicht vorzutragen, kann es durchaus nützlich sein, die korrekte Aussprache eines Wortes zu kennen, da man sich dadurch in vielen Fällen dessen Bedeutung leichter erschließen kann.
Generell liegt die Betonung bei mittelhochdeutschen Wörtern auf der ersten Silbe. Auffallend ist an unserem kleinen Textausschnitt, dass viele Vokale ein Zirkumflex (= ^) tragen. Immer wenn das der Fall ist, werden sie lang gesprochen:
Beispiel: mhd. jâmer [‘ja:mɐ] – nhd. Jammer [ˈjamɐ]
Alle anderen Vokale werden kurz ausgesprochen, auch wenn sich das für uns manchmal etwas komisch anhört.
Beispiel: mhd. nemen [ˈnɛmən] – nhd. nehmen [ˈne:mən]
Weiterhin fallen uns die Umlaute auf, die als Ligatur (/æ/, /œ/) dargestellt werden. Wenn dies der Fall ist, werden die Umlaute langgesprochen. Alle Umlaute ohne Ligatur werden kurz gesprochen:
Beispiel: mhd. künne [ˈkʏnə]
Bei Diphthongen liegt die Betonung auf dem ersten Diphthongteil:
/ei/ als e + i → ist als [ɛɪ] zu sprechen (wie in engl. day), nicht [aɪ]
/ie/ als i + e → kein langes [i], sondern [iə]
/ou/ als o + u
/uo/ als u + o
/üe/ als ü + e
Für Konsonanten gilt Folgendes:
/st/ und /sp/ werden als s + t und s + p ausgesprochen, nicht wie im Nhd. üblich als [∫t] und [∫p].
/h/ wird im Wortanlaut und zwischen Vokalen als Hauchlaut gelesen: hûs, herre, sehen; im Auslaut, vor oder nach Konsonant und in Verbindungen /lh/, /rh/, /ht/ oder /hs/ als Reibelaut [χ]. Manchmal auch im Wortauslaut nach Vokal: niht, sah, solher, welher, wahsen. Wichtig: h ist anders als im Nhd. kein Dehnungszeichen.
/z/ wird im Anlaut und nach Konsonant wie im Nhd. als Affrikate [ts] gesprochen: zuo, herze. Nach Vokal wird /z/ als stimmloses Spirans gesprochen: daz
/c/ wird im Auslaut als /k/ gesprochen: tac
/ph/ steht für /pf/: phlegen = pflegen
/v/ wird wie /f/ ausgesprochen und manchmal auch so geschrieben: vrouwe/frouwe
Zu beachten ist außerdem die Auslautverhärtung: Die Laute b, d, g werden im Deutschen am Wortende wie p, t, k ausgesprochen. Diese sogenannte Auslautverhärtung wird im Mittelhochdeutschen auch grafisch umgesetzt:
er gap (nhd. er gab), burc (nhd. Burg), schult (nhd. Schuld)
Was wir aus diesen Regeln lernen können
In Bezug auf obigen Textausschnitt kann man sich mit den Ausspracheregeln erschließen, dass bei küener die Betonung auf ü liegt und zumindest eine lautliche Ähnlichkeit zu unserem nhd. Wort kühn besteht. Ob küener diese Bedeutung auch im Mittelhochdeutschen hat, müsste anhand eines Wörterbuchs überprüft werden.
Wie ist es aber mit Wörtern wie sagen oder weinen, die laut Regeln kurzgesprochen werden, heutzutage aber lang? In diesem Fall würde die Aussprache doch eher verwirren.
Tatsächlich helfen uns diese Regelungen erst, wenn wir sie in Kombination mit den Lautwandelphänomenen betrachten, mit denen es im nächsten Artikel weitergeht.