Kleine mittelhochdeutsche Reihe: 3. Lautwandel (Vokalismus)

Sprache wandelt sich. Das, was manch einer verächtlich Sprachpanscherei nennt, ist weder ein Phänomen der heutigen Zeit noch besonders außergewöhnlich. Sprache ist kein festes Gebilde, sondern ändert sich durch den Kontakt mit anderen Sprachen und den Aussprachegewohnheiten ihrer Sprecher.

Einige der gebräuchlichsten deutschen Wörter sind in diesem Sinne keine „rein deutschen“ Wörter, d. h. Erbwörter, die es schon seit dem Indogermanischen gibt, sondern Lehnwörter, die irgendwann der deutschen Sprache in Aussprache und Schrift angepasst wurden. So geht unser Keller ursprünglich auf das lateinische cellarium zurück, aus dem es im 8. Jahrhundert entlehnt wurde. Zwar ist das bereits über tausend Jahre her, es zeigt jedoch, wie sich Sprache schon immer geändert und mit fremden Wörtern angereichert hat.

Bis die deutsche Sprache werden konnte, wie sie heute ist, hat sie einiges an Veränderungen über sich ergehen lassen. Um das zu sehen, muss man nicht einmal weit zurückgehen; das Deutsch, das zu Zeiten Goethes gesprochen und geschrieben wurde, ist anders als unser heutiges. Wo es damals noch einen großen Einfluss des Französischen und Lateinischen gab, ist es heute das Englische. Trotzdem gehören sowohl Goethes Deutsch als auch unser Deutsch zum Neuhochdeutschen. Deutlicher wird es natürlich, wenn man zwei Sprachstufen nebeneinanderstellt, in unserem Fall Mittel- und Neuhochdeutsch. Manche mittelhochdeutschen Wörter kennen wir gar nicht mehr, andere erkennen wir nicht auf den ersten Blick.

Dass Sprachwandel räumlich nicht einheitlich verläuft, sieht man, wenn man das Mittelhochdeutsche mit bestimmten Dialekten vergleicht. Das Alemannische ist ihm beispielsweise immer noch sehr ähnlich. Und mein Lieblingsbeispiel: Wo aus mhd. vrouwe lautlich die Frau geworden ist, hat sich im Niederländischen die vrouw erhalten.

Sprache wandelt sich glücklicherweise nicht zufällig. So kann man die Lautwandelphänomene ganz gut in Kategorien einteilen, die wiederum helfen, wenn man mittelhochdeutsche Begriffe in unser heutiges Deutsch übersetzen möchte. All das, was wir uns jetzt anschauen, nennt sich vokalischer Lautwandel. Natürlich haben sich auch die Konsonanten verändert, und das teilweise erheblich (wobei diese Prozesse bis zum Mittelhochdeutschen schon weitgehend abgeschlossen sind). Die Veränderungen, die zum Neuhochdeutschen dazukommen, betreffen meistens Doppelkonsonanten oder alternative Schreibweisen wie f – v oder c – k.

I. Veränderungen in der Vokalqualität

Um sich die Kategorisierung zu erleichtern, unterscheidet man in Lautwandelphänomene, die Veränderungen in der Vokalqualität hervorrufen und solche, die die Vokalquantität betreffen. Vokalqualität meint dabei die Beschaffenheit eines Vokals, während Quantität auf die Länge bzw. überhaupt das Dasein eines Vokals abzielt.

Zu den wichtigsten Lautwandelphänomenen, die die Vokalqualität betreffen, gehören die frühneuhochdeutsche Diphthongierung, Monophthongierung und der Diphthongwandel. Von dem Zusatz „frühneuhochdeutsch“ (im Folgenden abgekürzt als frnhd.) sollte man sich nicht irritieren lassen; er gibt an, dass diese Prozesse im Frühneuhochdeutschen eingesetzt haben und – da sich daran nichts mehr geändert hat – auch für unser Neuhochdeutsch gelten. Analog dazu gibt es beispielsweise auch die althochdeutsche Diphthongierung.

Nun zu den Phänomenen im Einzelnen. Frnhd. Diphthongierung beschreibt einen Prozess, bei dem aus einem Monophthong, also einem einzelnen Laut, ein Diphthong wird. Liegt uns etwa das mhd. Wort „zît“ mit dem Laut î vor (das Zirkumflex gibt uns an, dass es lang ausgesprochen wird, wie wir bereits gelernt haben), wird aus diesem Laut ein ei, weshalb es heutzutage „Zeit“ heißt. Dieser Vorgang betrifft genau drei Laute im Mittelhochdeutschen: î, iu (= Ligatur für ü) und û, aus denen zum Neuhochdeutschen hin ei, eu und au werden. In der Übersicht sieht das folgendermaßen aus:

Frühneuhochdeutsche Diphthongierung
mhd. /î/ – nhd. /ei/          mhd. zît → nhd. Zeit
mhd. /iu/ – nhd. /eu/       mhd. hiute → nhd. heute
mhd. /û/ – nhd. /au/       mhd. hûs → nhd. Haus
Merkspruch: mîn niuwez hûs – mein neues Haus

Ausnahmen bestehen bei unbetonten Nebensilbenvokale in -lîch und -în (mhd. kintlîch – nhd. kindlich, mhd. künegîn – nhd. Königin) und bei manchen einsilbigen Wörtern (mhd. nû – nhd. nun, mhd. dû – nhd. du (aber: mhd. ûf – nhd. auf)).

Das Gegenteil der Diphthongierung ist die frnhd. Monophthongierung. Bei diesem Prozess wird ein mhd. Diphthong zu einem Einzellaut. Betroffen davon sind die mhd. Diphthonge ie, uo und üe, die zu langem i, u und ü werden.

Frühneuhochdeutsche Monophthongierung
mhd. /ie/ – nhd. /i:/     mhd. liep → nhd. lieb [Manchmal können sich Laut und Schrift unterscheiden!]
mhd. /uo/ – nhd. /u:/   mhd. guot → nhd. gut
mhd. /üe/ – nhd. /ü:/   mhd. hüeten → nhd. hüten
Merkspruch: liebe guote brüeder – liebe, gute Brüder

Auch hier gibt es eine Ausnahme: Wenn der entstandene Langvokal gekürzt wird (mhd. muoter – nhd. Mutter)

Beim frnhd. Diphthongwandel bleibt der Diphthong erhalten, ändert sich aber minimal in seiner Aussprache:

Frühneuhochdeutscher Diphthongwandel (Öffnung)
mhd. /ei/ – nhd. /ai/    mhd. keiser → nhd. Kaiser [meist bleibt Schreibung erhalten]
mhd. /öu/ – nhd. /eu/  mhd. fröude → nhd. Freude
mhd. /ou/ – nhd. /au/  mhd. ouge → nhd. Auge
Merkspruch: vröude und ougenweide – Freude und Augenweide

Zu den weiteren Lautwandelprozesses gehören die mitteldeutsche Senkung und die Rundung/Entrundung. Der Zusatz “Mitteldeutsch” nimmt hier einen geographischen Bezug, während Senkung auf die Position der Vokale auf der Zunge referiert (→ vgl. Vokaltrapez). Rundung/Entrundung bezieht sich auf die Aussprache.

Mitteldeutsche Senkung
mhd. /u/ – md./nhd. /o/      mhd. sunne → nhd. Sonne
mhd. /ü/ – md./nhd. /ö/      mhd. künec → nhd. König
Merkspruch: des küneges sunne – des Königs Sonne

Rundung/Entrundung (keine feste Regel)
mhd. /e/ – nhd. /ö/          mhd. helle → nhd. Hölle
mhd. /i/ – nhd. /ü/           mhd. finf → nhd. fünf
mhd. /â/ – nhd. /o:/         mhd. mâne → nhd. Mond

mhd. /ü/ – nhd. /i/           mhd. küssen – nhd. Kissen

Merkspruch: helle âne wirde – Hölle ohne Würde

II. Veränderungen in der Vokalquantität

Bei Lautwandelprozessen, die die Vokalqualität betreffen, geht es vor allem darum, dass Vokale länger oder kürzer ausgesprochen werden bzw. ganz entfallen. Man unterscheidet hier die neuhochdeutsche Dehnung, Kürzung sowie Apokope und Synkope.

Bei der nhd. Dehnung werden ursprünglich kurze Vokale im Neuhochdeutschen lang ausgesprochen, bei der nhd. Kürzung ist es umgekehrt.

Neuhochdeutsche Dehnung
kurzer Vokal → langer Vokal
– offene Tonsilbe (Silbe endet auf Vokal)   mhd. geben [e] → nhd. geben [e:]
– geschlossene Tonsilbe                            mhd. tac [a] → nhd. Tag [a:]

Neuhochdeutsche Kürzung
langer Vokal → kurzer Vokal
– vor Mehrfachkonsonanz           mhd. brâchte [a:] → nhd. brachte [a]
– vor Einfachkonsonanz bei -er   mhd. jâmer [a:] → nhd. Jammer [a:]

Um diese Prozesse leichter nachvollziehen zu können, hilft es natürlich, sich vorher mit der Aussprache vertraut zu machen.

Bei Apokope und Synkope geht es darum, dass ein unbetontes e, wie es häufig im Mhd. vorkommt, wegfällt. Dies ist deshalb möglich, weil es keine morphologische Funktion trägt; ähnlich wie man heutzutage sowohl siehe! als auch sieh! sagen kann, ohne, dass sich ein Unterschied ergäbe.

Apokope & Synkope (in unbetonter Silbe)
Wegfall des unbetonten /e/
– am Wortende: Apokope       mhd. schœne → nhd. schön
– im Wortinneren: Synkope    mhd. angest → nhd. Angst

Fazit

Wie kommt es dazu? Das versucht man anhand verschiedener Sprachwandeltheorien zu klären. Was die Änderungen in der Vokalqualität betrifft, geht man vor allem von Einflüssen durch Dialekte und andere Sprachen aus.

Eine andere wichtige Theorie, die hier vor allem zu Apokope und Synkope passt, ist die der Sprachökonomie. Menschen wollen sich mit möglichst wenig Aufwand artikulieren, weshalb nur das ausgesprochen wird, was zum Verständnis gebraucht wird. So lassen sich auch Sätze wie „Ich geh Aldi“ erklären. Im Prinzip sind in diesem Satz komprimiert alle Informationen ausgedrückt: Die Person und ihre Aktion, die noch durch eine adverbiale Bestimmung spezifiziert wird. Obwohl die Präposition “zu” fehlt, können wir uns als Hörer die Bedeutung des Satzes erschließen, weil das Verb “gehen” bereits die Bewegung umfasst.

Was hat uns das alles nun gebracht? Denken wir zurück an unseren Ausschnitt aus dem Nibelungenlied:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit
von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.

Mithilfe des Lautwandels können wir sagen, dass fröuden lautlich nhd. Freuden entspricht (Diphthongwandel), bei arebeit eine Synkope vorliegt, bei küener eine Monophthongierung, strîten zu streiten wird (Diphthongierung) uvm. Aber Achtung: Häufig geht mit dem Lautwandel ein Bedeutungswandel einher. arebeit ist von seiner Bedeutung her nicht die Arbeit, die wir erwarten. Trotzdem erlangen wir durch die Prozesse Kenntnisse, die uns beim Verständnis eines mhd. Textes weiterhelfen.

Nachdem wir uns nun ausführlich mit Aussprache und Lauten auseinandergesetzt haben, widmen wir uns im nächsten Artikel der Verbkonjugation im Mittelhochdeutschen.

Und was denkst du dazu?

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