„So viel Einfalt bei so viel Verstand“ – Goethes „Werther“ auf der Bühne und die Frage nach der Rezeption kanonisierter Werke

Vor etwas mehr als zwei Wochen fragte eine Freundin bei mir an, ob ich Lust hätte, mit ihr in die letzte Vorstellung des Stücks „Komödie mit Banküberfall“ zu gehen. Dies nahm ich zum Anlass – da mir das Stück nichts sagte – mal wieder die Website des Staatstheater Mainz zu besuchen. Mein letzter Theaterbesuch lag zu diesem Zeitpunkt über ein Jahr hinter mir – allein das ist schon ein Trauerspiel, wenn man bedenkt, dass Studierende der Uni Mainz ab drei Tage vor einer Vorstellung kostenlose Theaterkarten erhalten können.

Das erste, was mir auf der Website ins Auge fiel, war der Titel einer aktuell laufenden Inszenierung mit dem Titel „Werther“ . Sofort informierte ich mich, wie lange die Inszenierung schon lief (zu diesem Zeitpunkt knapp zwei Wochen) und wann die nächste Aufführung anstünde. Gestern saß ich nun also in besagter Inszenierung – habe jegliche Spoiler vorher vermieden – und war interessiert daran, was aus dem Roman gemacht wurde.

Die Vorlage

Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) ist, man mag es glauben oder nicht, mein Lieblingsroman. Auf diesen Fakt führe ich bisweilen auch die Tatsache zurück, dass Germanistik genau das richtige Studienfach für mich war. Niemand, ausnahmslos niemand sonst würde ein beinahe 250 Jahre altes Buch als Lieblingsroman angeben (Ausnahmen bitte in den Kommentaren melden!), zumal nicht das Werk des deutschen Autors schlechthin (vom „Faust“ abgesehen, aber das ist ja auch kein Roman), das Dekaden von literarischer, medialer, popkulturellen und wissenschaftlicher Beschäftigung hinter sich gebracht hat, mit dem Schulklassen und Uni-Kurse „gequält“ werden, und dem – leider – wie vielen kanonisch gewordenen Werken die Aura des Veralteten und Langweiligen anhängt.
„Werther“ war übrigens schon mein Lieblingsroman, als wir in der elften Klasse im Deutsch-LK unser Lieblingsbuch auf einem Zettel notieren und diesen abgeben sollten. Sollte sich meine damalige Lehrerin Gedanken über die Rückläufe gemacht haben, so hielt sie meine Angabe wahrscheinlich für einen Scherz. Aber immerhin: Manch anderer konnte nicht einmal ein Lieblingsbuch notieren. So ist das eben, wenn man seit der Unterstufe kein Buch mehr freiwillig gelesen und den Kurs nur gewählt hat, weil man Deutsch für ein einfaches Fach hielt (kein Urteil von mir, sondern wahre Worte, die damals im Kurs gefallen sind). Glücklicherweise hatte sich an meinem Wohlgefallen für jenes Buch auch nach 2,5 Jahren Oberstufe nichts geändert, was sicherlich auch dem Umstand zu verdanken ist, dass wir – auch das mag man kaum glauben – den Roman maximal zwei Stunden behandelt haben, und dann auch nur in Bezug auf das dort zum Ausdruck gebrachte Naturempfinden. Aus der Schule habe ich jedenfalls nicht gelernt, was denn genau die titelgebenden Leiden Werthers waren.
Dabei ist der „Werther“ meines Erachtens alles andere als langweilig. Aber es soll in diesem Text nicht darum gehen, den Roman zu verteidigen. Das habe ich an anderen Stellen auf dieser Website schon getan. Und letztlich ist natürlich jeder Geschmack anders. Kritisch wird es nur da, wenn Werke von vornherein verurteilt werden.

Die Inszenierung

Zurück zur “Werther“-Inszenierung, die aus der Feder von Regisseurin Brit Bartkowiak und Dramaturg Boris C. Motzki stammt. Noch bevor die Aufführung losgeht, verrät bereits ein Blick auf die Bühne, womit man es zu tun bekommt, nämlich einer typisch zeitgenössischen Inszenierung. Das Bühnenbild gleicht einer Baustelle: Überall stehen Gerüste, Leitern und Utensilien (der offenkundig gern zum Einsatz kommende Einkaufswagen darf auch nicht fehlen!), außerdem verschiedene Instrumente. Auf dem Boden liegen Unmengen an Plastik- und Abdeckfolie wild verteilt. Den Hintergrund dieser Kulisse bildet eine riesige Leinwand, auf der später Filmaufnahmen und Aufnahmen einer Live-Cam (deren vorsorgliche Einwicklung in Folie verrät, dass der Einsatz von Flüssigkeiten zu erwarten ist) zu sehen sind.

Die Herangehensweise an Goethes Briefroman beschreibt Dramaturg Motzki als eine Annäherung von heute. Aus diesem Ansatz speist sich auch der grundlegende dramaturgische Einfall der Inszenierung Geboten wird eine Inszenierung in einer Inszenierung: Zwei Darsteller, eine Darstellerin – das Personal beschränkt sich ganz auf die Hauptakteure des Romans, Werther, Lotte und Albert – führen vor, wie sie den Roman erst (für sich) entdecken, die Rollen verteilen (so probiert sich jeder einmal als Werther und Lotte aus) und schließlich vorführen.
Gerade in dieser „Entdeckungsphase“ wird die vierte Wand immer wieder durchbrochen und das Publikum miteinbezogen. Dies beginnt bereits mit dem allerersten Auftritt, bei dem der spätere Albert das Publikum begrüßt, etwas über den scheinbar unfertigen Zustand des Bühnenbilds äußert und schließlich mit dem schauspieltheoretisch sehr interessanten Kommentar flüchtet, er brauche den „Schutzmantel der Figur“, um auf die Bühne treten zu können. Begleitet wird dieser Teil der Inszenierung von einer ironisch-humoristischen Note. Da schwebt Lotte als Werthers Engel in einer Wolke über die Bühne, es wird eine Karaoke-Einlage geboten, und der gemeinsame Ball mutet wie eine schräge Tanzparty an. Der Abschnitt war amüsant und kurzweilig, immer wieder gab es heiteres Lachen im Publikum, einmal sogar Beifall. Doch nicht selten hatte ich das Gefühl, die Inszenierung kippt und verkommt zur Komödie – die das Original nun mal nicht bietet.
Im Verlauf der Handlung gleiten die Darsteller dann immer weiter in ihre Rolle: Das Alltagsoutfit wird gegen zeitgenössische Kleidung andeutende (Plastik-)Kostüme getauscht, die Alltagssprache weicht Zitaten aus dem Roman, Ausbrüche aus den Rollen werden seltener. Mit Werthers Flucht – dem Ende des ersten Romanteils – verschwindet die Ironie vollkommen aus dem Stück. Auch handlungstechnisch passiert nun nicht mehr viel. Der einsame Künstler Werther verliert den Verstand, schmiert erst eine Plastikplane und dann sich selbst mit Farbe voll, zieht sich aus (keine moderne Inszenierung ohne Nacktheit!), positioniert sich wie Jesus am Kreuz, spricht seine letzten Worte und verschwindet hinter der Leinwand. Lotte und Albert sprechen den Herausgeberkommentar, dann ist die Aufführung vorbei.

Mein Fazit? Insgesamt fand ich die Inszenierung in Ordnung. Es gibt einige schöne inszenatorische Einfälle (Stichwort: Waffe, Schattenriss) und atmosphärisch gut gemachte Szenen (v. a. das Ende von Teil 1), manchmal geriet sie allerdings etwas langatmig, vor allem dann, wenn ausschließlich monologisiert wurde und visuell nichts weiter passiert ist. Bei zeitgenössischen Inszenierungen weiß ich nie genau, ob ich sie gut finde oder nicht, und ich habe den Eindruck, daran scheiden sich viele Geister. In diesem Fall finde ich die Wahl der “Stück im Stück”-Dramaturgie interessant, vor allem deshalb, weil sie die Frage aufwirft, wie man diesen “Klassiker” auf die Bühne bringen kann (vgl. auch den ähnlichen Kommentar von Alexander Jürgs auf nachtkritik.de). Nur von dem Ende bin ich enttäuscht, angesichts dessen, was vorher aufgeboten wurde. Gut auf den Punkt bringt dies der Kommentar von Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau: „Das Ende, der Tod, der schlimm ist, wird nüchtern referiert. Die Szene beruhigt sich […], könnte man sagen, aber auch: Da ist ihnen halt nichts mehr Lustiges eingefallen und sonst auch nichts mehr.“

Ein Klassiker auf der Bühne?

Wer diese Website verfolgt, weiß, dass ich mir ab und an Gedanken mache über kanonisierte Literatur, „Klassiker“, „alte Werke“ oder wie man sie nennen mag, vor allem aus rezeptionsästhetischer Sicht. In meiner subjektiven Wahrnehmung ist der „Werther“ das Paradebeispiel für ein Buch, bei dem Leute sagen: „Oh, wie langweilig!“ (Auch wenn ich es nicht ganz so weit wie Dramaturg Motzki gehen würde, der davon spricht, dass Werther „nur Extremhaltungen“ erzeuge, „entweder ein komplettes Dafür oder Abgestoßenheit.“) Ich kann verstehen, dass ein Werk, das beinahe 250 Jahre alt ist, in Sprache, dargestellten Moralvorstellungen, Figurenzeichnung und Handlung nicht mehr zeitgemäß wirkt. Daher ist es auch das Ziel beinahe jeder Inszenierung eines älteren Werks, dieses zu modernisieren und Verbindungen zu heute bzw. das Zeitlose herauszuarbeiten.
Gerade der “Werther” leidet m. E. aber unter einem Problem jenseits von pathetischer Sprache und veränderter sozialer Wirklichkeit. Die Handlung des Romans wird immer wieder heruntergebrochen auf: Übertriebene Liebesgeschichte. Natürlich: Wenn ich alles andere wegnehme – Form, zeitgenössischer Hintergrund, Verbindung zu Goethe, soziale Aspekte, dann bleibt die Liebesgeschichte übrig. Aber das kann ich immer machen: Den Inhalt so weit vereinfachen, bis man ein Werk für langweilig und austauschbar hält. Aber so einfach ist das nicht. Werke sind komplex, gerade jene, die auch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung noch bekannt sind.
Wenn ich eines aus meiner langen Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur gelernt habe, dann, dass sich gewisse Themen immer wieder wiederholen. Über Liebe wurde bereits in der Antike gesprochen. Interessant und vielfältig ist hingegen die Art, wie über etwas gesprochen und wie etwas dargestellt wird.

Auch die Inszenierung von Bartkowiak und Motzki reduziert die Handlung bewusst auf die Liebesthematik (vgl. Aussagen hier). Die sozialen Aspekte des Romans – Werthers Auflehnen gegen die bürgerlichen Wert- und Moralvorstellungen, gegen Normen und Pflichten – also das, was den Roman einmal wirklich skandalös gemacht hat und gerne vergessen wird, fallen fast komplett raus. Das allein wäre wohl nicht schlimm gewesen, denn auch aus der Liebesgeschichte kann man viel rausholen, beispielsweise die verschiedenen Lebensmodelle: Werthers Versuch der Selbstverwirklichung, sein Drang nach Freiheit und Individualität, dagegen Albert als bieder wirkender, sich der Norm beugender Bürger, und dazwischen Lotte, die sich nicht so ganz entscheiden kann. Obendrein wird aber alles komödiantisch aufbereitet, was für unterhaltsame Momente gesorgt hat, aber m. E. viel zu sehr dem Versuch glich, eine tragische Geschichte irgendwie humorvoll aufzupeppen (vgl. auch Jürgs´ Kritik auf nachtkritik.de).

Klassiker und die Schule?

Die Kritik von Eva-Maria Magel in der FAZ zur Inszenierung beginnt mit den Worten: „Das wird vermutlich der Knaller für alle Schüler in der Rhein-Main-Region“. Tatsächlich würde ich gerne einmal mit einer Schulklasse darüber sprechen, ob sie über eine solche Inszenierung Zugang zu einer vermeintlich langweiligen Schullektüre finden (würde). Gleichzeitig denke ich: Liegt in einem solchen Denken nicht schon das Eingeständnis, dass es der Unterricht nicht schafft, ein Werk (und zwar mit allem, was es auszeichnet: Form, Inhalt, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte etc.) angemessen zu vermitteln? Sternburg schreibt in der oben erwähnten Theaterkritik in der Frankfurter Rundschau, dass die Ironie des Stücks „vielleicht das Traurigste daran” sei. Die Ironie signalisiere “ohne Unterlass, dass man das alles heute irgendwie albern findet.“ Und ich kann dieser Aussage nur beipflichten. Eine Inszenierung ändert, so meine Beobachtung, die Sicht auf das Originalwerk nicht (oder nur ganz selten). Oder anders gesagt: Eine „Werther“-Inszenierung kann als gut gemacht bewertet werden, während das Original weiterhin als langweilig empfunden wird.

Und so sind wir letztlich wieder beim Anfang angekommen: Alles ist eine Frage des Geschmacks, des persönlichen Werturteils. Jedes Buch muss sich irgendwann dem Vorwurf des Alten und Überkommenen stellen. Umso höher sind alle Versuche einzuschätzen – ob theatral oder im Unterricht – eben jene lohnenswerte Werke nicht nur im Gedächtnis zu erhalten, sondern ihre Besonderheit herauszustellen. Mag man am Ende dieses Werk nun mögen oder nicht.

Ein Funfact zum Abschluss: In Nordrhein-Westfalen existiert – ganz unabhängig von dem Roman – sowohl eine Stadt namens Werther als auch eine Stadt namens Lotte. Beide trennt etwa 55 km.

Werther
Nach Goethes Briefroman “Die Leiden des jungen Werthers”
Fassung von Brit Bartkowiak und Boris C. Motzki
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Hella Prokoph, Kostüme: Carolin Schogs, Musik: Ingo Schröder, Video: Kai Wido Meyer, Licht: Stefan Bauer, Dramaturgie: Boris C. Motzki.
Werther: Julian von Hansemann, Lotte: Lisa Eder, Albert: Sebastian Brandes
www.staatstheater-mainz.com

Literatur zur Wirkungsgeschichte von Goethes “Werther“:
Ingrid Engel: Werther und die Wertheriaden. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte. St. Ingbert 1986 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 13).
Klaus R. Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. 3. unv. Aufl. Wiesbaden 1980.
Karin Vorderstemann: “Ausgelitten hast du – ausgerungen.” Lyrische Wertheriaden im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 2007 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 242).

Bildquelle: Johann Daniel Donat (1744-1830) – Hans Wahl, Anton Kippenberg: Goethe und seine Welt. Insel-Verlag, Leipzig 1932, S. 35, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8042903



One comment

  • Hm, kann Werther nicht besonders leiden, bin da wohl einfach durch die Schule vorgeprägt… Hätte es selbst gern im Theater gesehen, vielleicht würde ich dann anders denken. Trotzdem krass, wie viele Gedanken du dir zum Thema gemacht hast

Und was denkst du dazu?

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