Stefan Bollmann: “Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist”
Die Anzahl an Büchern über Goethe ist schier endlos; eine Aussage, die natürlich keine Überraschung darstellt. Neulich las ich allerdings mal wieder eines von denen, die sehr lesenswert sind, gerade auch für die, die bisher nicht viel mit Goethe anfangen konnten. Es handelt sich dabei um Stefan Bollmanns 2016 erschienenes Buch Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist, eine Mischung aus Biographie und Lebensratgeber. Der rote Faden im Buch bildet – neben Goethes realem Lebensweg – ein erdachter Goethe-Park, in dem wichtige Stationen bzw. Aspekte aus Goethes Leben metaphorisch aufzufinden sind, so etwa Werthers Grab, die Schule des Erwachsenwerdens oder der Fuchsbau (Anspielung auf Reineke Fuchs). Die Parkmetapher wurde laut Autor deshalb gewählt, weil man sich in Goethes Leben umschauen und verweilen kann, soll und darf – aber zwischendurch immer wieder dieses Feld verlassen soll.
Das Buch gibt letztlich keine Antwort auf die titelgebende Frage (zumindest keine allgemeingültige), stattdessen zeigt es auf knapp 300 Seiten auf, wie nützlich die Lektüre bzw. Beschäftigung mit Goethe sein kann – so kann man beispielsweise von ihm lernen, wie gewinnbringend es ist, den Augenblick zu genießen. Dabei kommen teilweise unbekannte Facetten in Form von Aussagen, Briefstellen und Textstellen zum Vorschein, die der Goethe-Idealisierung und Verehrung vergangener Jahrhunderte oftmals zum Opfer gefallen sind.
Ein wichtiges Anliegen des Autors ist es, Goethe die Aura des Dichterfürsten zu nehmen und den facettenreichen Mann zu zeigen, der er war, der schreibend das Leben meisterte (vgl. S. 68) und – nach These des Autors – vom Wunsch, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, angetrieben wurde (was, so einfach es klingen mag, damals nicht einfach war und es heute tatsächlich immer noch nicht ist).
Man kann es nicht oft genug betonen: Goethe war ein großartiger Schriftsteller, aber sicher nicht der Größte und Beste, wie er von manchen noch immer bezeichnet wird. Bollmann schreibt dazu einen leider sehr wahren Satz, der sich gut auch auf andere öffentliche Personen übertragen lässt: „Die sich bereits zur Lebzeiten Goethes entwickelte Klassiker-Legende verdankt sich der Kastration. Was mit dem Bild vom Olympier nicht zu vereinen war, wurde kurzerhand aussortiert, zum Teil sogar vernichtet. [Kommentar von mir: Dafür hat Goethe allerdings auch selbst gesorgt!] Goethe und seine Leser aber wurden damit um einen wesentlichen Aspekt des Dichters betrogen. Das eigene Leben ist nie identisch mit der Legende, die sich nachträglich darum stricken lässt.“ (S. 172)
Gleichwohl es meines Eindrucks nach in letzter Zeit glücklicherweise wieder in die Richtung geht, Personen unabhängig von der ihr zugeschriebenen Aura zu betrachten, herrscht das Bild des angestaubten Dichterfürsten noch immer vor – angefangen beim Schulunterricht, in dem die Standardwerke nach Schema F bearbeitet und analysiert werden. Nur allzu gut erinnere ich mich an meinen Deutschunterricht in der Oberstufe, der nur daraus bestand, irgendwelche Schlagwörter zu Epochen auswendig zu lernen und repräsentative Werke zu lesen – mit Goethes Leben haben wir uns im Übrigen nie beschäftigt. Inzwischen kann ich verstehen, wenn Schüler keine Lust auf die immer gleichen Analysen haben; dabei gibt doch sicher so viele Möglichkeiten, den Schülern Goethe und Literatur generell schmackhaft zu machen.
Und, um noch einmal mit Bollmann zu sprechen: “Wir müssen uns also keineswegs nach Weimar aufmachen und dort auf Goethes Spuren wandeln, um seinem Geist und dem Genius des Lebens zu begegnen. Statt uns an die Gegenstände und Orte zu heften, mit denen Goethe einst in Berührung kam, sollten wir uns an seinen aufmerksamen Blick halten, mit dem er sie betrachtete, und mit diesem Blick unsere Welt auf neue Weise entdecken. Statt in seinen Fußstapfen zu gehen und uns vorzunehmen, so zu leben wie er, sollten wir sein Experiment aufgreifen, ein eigenes Leben führen, ohne uns von Namen blenden und von Dogmen beschränken zu lassen, ohne auf Status und Business allzu viel zu geben und uns bei der ersten Enttäuschung die Maske der Heuchelei überzustreifen” (S. 271).
Insgesamt kann ich das Buch nur sehr empfehlen. Wer mit Goethes Leben und Werken nicht vertraut ist, erhält einen kleinen Einblick in die wichtigsten Stationen und Werke seines Lebens – und sieht den “Klassiker” vielleicht mit anderen Augen.
“Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist” erschien 2016 bei DVA und ist für den Preis von 19,90€ erhältlich.