Halloween Special: Die schwarze Rose

Eisig fegte der Wind über die kahlen Bäume des Firnwaldes hinweg, stahl sich in die Zwischenräume, zerzauste die gefrorenen Blätter, wühlte die manchmal morsche Rinde der Bäume auf, brach ab und an ein kleines Ästchen ab, das er viele Meter weit auf Reisen schickte und irgendwann wieder auf neuem Grund abwarf.
Luna zog sich die Kapuze tief in die Stirn, um dem beißenden Wind zu entkommen – ein schwieriges Unterfangen, denn der Wind riss ihr mehrmals die Kapuze wieder vom Kopf. Mit eiligem Schritt durchquerte sie den Wald, während einzig der Mond ihr den Weg wies. Mit vom kalten Wind oder von Wut und Angst tränenden Augen – da war sie sich nicht ganz sicher – versuchte sie, den schmalen Pfad auszumachen, der sich zwischen den Büschen durch den Wald schlängelte. Voll und ganz musste sie sich dabei auf ihren Orientierungssinn verlassen, da sie ihr genaues Ziel nicht kannte.
„Wenn Du retten willst, was Dein einzig Schatz ist, so finde mein Lager im tiefsten Firnwald“, hatte sie auf einem zerfledderten, nassen und blutverschmierten Zettel ausmachen können, nachdem sie mit Entsetzen festgestellt hatte, dass man ihr ihren Schatz entwendet hatte.
Dichter Nebel schien an ihren Kleidern zu kleben wie zäher Honig und der erdige Boden unter ihr war hart und rutschig. Bloße Schemen vermochte sie in dieser Finsternis auszumachen. Nicht immer konnte sie sich sicher sein, ob diese nur von Bäume oder vielleicht sogar von Geister stammten.
Lange, eine Ewigkeit wanderte sie zwischen den dornigen Büschen umher, sich nach einem Lager und möglichen Gefahren umsehend. Ihre Füße spürte sie schon lange nicht mehr und auch das Erwärmen der Finger durch ihren Atem hatte sie vor einiger Zeit aufgegeben. Gerade spielte sie mit dem Gedanken, dies könnte, sollte bloß ein böser Streich sein, ein Traum, aus dem sie gleich mit Erleichterung aufwachte, und diskutierte mit sich selbst, ob sie nicht einfach umkehren sollte, als sich plötzlich in der Ferne der Umriss eines kleinen Hauses vom nebligen Hintergrund abhob.
Mit Unbehagen näherte sie sich dem Gebäude, wollte zögern, vorsichtig sein, doch die Aussicht, endlich wieder ihren Schatz sicher zu wissen, machte es ihr unmöglich, ihren Schritt zu verlangsamen, als würde sie wie Wasser in einen Abfluss gesogen.
Endlich gelangte sie an ihr Ziel. Bretter morschen Holzes waren aus der Konstruktion des kleinen Haus gefallen, Eisblumen bedeckten die Überreste der eingeschlagenen Scheiben und die Tür hing schief und verfault in den Angeln.
Unsicher trat Luna näher zum Eingang. Konnte es wirklich sein, dass ihr Schatz und sein Dieb sich hier befanden? In diesem alten, verfallenen Häuschen mitten im Nichts? Doch schon so weit war sie vorgedrungen; jetzt durfte sie nicht mehr aufgeben und umkehren.
Entschlossen trat sie in den einzigen Raum, dessen Boden unter ihren Füßen bedenklich knarrte. Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch ein dem Mond zugewandtes Fenster, sodass Luna nicht viel von dem Inhalt des Raumes ausmachen konnte. Jedoch konnte von Inhalt keine Rede sein: vielmehr konnte sie nicht ausmachen, dass der Raum eben keinen Inhalt eingrenzte, dass sie in der Tat in einem Nichts stand.
Völlig einsam und verloren stand Luna also in diesem völlig einsamen und verlorenen Haus irgendwo im Firnwald, wo sie niemand mehr finden würde.
„Einen weiten Weg hast Du da auf Dich genommen“, ertönte eine Stimme irgendwo im Raum. Eine Quelle war aber nicht zu sehen. „Kommst so völlig wehrlos und klein zu mir, nur um Deinen wertvollen Schatz wiederzuholen“, fuhr die Stimme mit hämischem Ton fort.
Lunas Kehle war wie zugeschnürt. Gerne hätte sie eine schlagfertige, eine drohende oder vielleicht auch eine ängstliche Antwort gegeben, eine Bitte oder sonst irgendetwas. Doch kein Ton wollte ihrem Mund entweichen.
Jetzt erfüllte ein raues Lachen den Raum, ging über in die Konstruktion, ließ das Holz vibrieren und die Fenstersplitter klirren. Immer lauter wurde es, immer durchdringender, bis es jede Faser ihres Körpers zu erfassen schien, sich durch die Muskeln fraß, einen unangenehmen Schmerz hinterließ. Plötzlich fiel das Haus über ihr zusammen. Große Holzbalken regneten auf sie herab und begruben sie unter einer dichten Decke aus Brettern und Splittern. Die ganze Nacht schien das Lachen jetzt zu erfüllen.
Verzweifelt ignorierte Luna ihre schmerzenden Glieder und das Blut, das ihre Gewänder langsam tränkte. Sie kämpfte sich durch das Meer aus zusammengebrochenem Haus und erblickte endlich wieder den kühlen Nachthimmel.
„Oh ja, kämpfe nur, kleines Mädchen. Dabei weißt Du doch selber, dass es kein Entkommen mehr gibt!“ Selbst der Mond schien sie verspottend anzugrinsen.
Dann sah sie ihn. Ihren Schatz. Schon die ganze Zeit hatte er neben einem Felsen in der Nähe des ehemaligen Hauses gelegen. Nach Luft schnappend stürzte sie darauf sie, bückte sich so tief sie könnte, umfasste ihn behutsam mit ihren kalten Händen, barg ihn an ihrer Brust.
„Und nur dafür bist Du hierher gekommen“, rief die Stimme voller Schadenfreude. „Um die Überreste Deiner erbärmlichen, schwachen Seele zu retten. Das einzige zu retten, was von Dir noch übrig ist.“
Trotzig hielt Luna ihren Schatz in den Händen. Betrachtete die graziösen Dornen, derer es nur einen kleinen Stich bedurfte, jemanden beinahe tödlich zu verwunden. Die wunderschön geschwungenen, schwarzen Blütenblätter, die selbst in dieser dunklen Nacht noch leuchteten. Den starken Stiel, der die Rose niemals im Stich ließ und sie immer stützte. Ja. Wahrlich. Die Stimme hatte recht. Diese Rose war ihr alles. Alles, was sie hatte. Alles, was sie war. Alles, was ihre niedere Existenz in dieser Welt noch ausmachte.
„So ist Dein Leben jetzt. Halb und unerfüllt. Hättest Du nur Deine Seele nicht für die Schönheit des Lebens verkauft.“
Die letzten Worte hörte Luna nur noch dumpf und leise. Der Boden unter ihr erzitterte, zersprang in tausend kleine Teil, brach ein tiefes, schwarzes Loch unter ihr auf, in das sie hineinfiel. Und fiel. Und fiel.
Hart schlug sie auf dem Boden auf. Sah sich um. Fand sich in ihrem Gemach wieder. Die Rose hielt sich immer noch in der verkrampften Hand. Zum Glück war ihr nichts zugestoßen.
Erleichtert erhob sie sich, streichelte die Rose, ohne von ihren Dornen aufgespießt zu werden. Es war alles nur ein Traum gewesen. Ein böser Traum, wie sich von Anfang an geahnt hatte.
Langsam schritt sie auf ihr Bett zu. Setzte sich hin. Lächelte die dunkle Schönheit voller Liebe an. Aber etwas in ihren Augenwinkeln fing ihren Blick. Ein leuchtend weißer Zettel, der auf einem kleinen Schemel neben ihrem Bett lag.
Mit einer dunklen Vorahnung nahm sie ihn in die zitternden Hände. Das nasse Papier schien unter ihren Fingern langsam zu zerfallen. Auf einmal entdeckte sie, dass ihre Hände blutverschmiert waren und das weiße Papier besudelten.
„Wenn Du retten willst, was Dein einzig Schatz ist, so finde mein Lager im tiefsten Firnwald“, ließ die verlaufene Tinte entziffern. Und nicht nur das. Mit einer anderen Feder waren die beiden letzten Worte durchgestrichen worden. In krakeliger Schrift wurde anstattdessen hinzugefügt: „Deine Seele.“ Ängstlich sah sie auf ihren Schatz hinab. Frische Tinte glänzte am spitz zugeschnittenen Ende des Stiels.
Wenige Sekunden später erfasste ein starkes Zittern Lunas Körper. Das konnte nicht sein. Er konnte sie nicht eingeholt haben. Dennoch wusste sie schon jetzt, dass sie alles verloren hatte.
Alle Macht wandte sie auf, um gegen sich selbst zu kämpfen, gegen ihre eigenen Arme. Doch nichts konnte sie tun. Sie war schon vor langer Zeit verloren gewesen. War schon vor langer Zeit gestorben.
Ihre Hände zerbrachen die Rose, ohne dass sie es hätte verhindern können. So floss ihr dunkles Haar ihren Körper herab, verschwand zwischen den Ritzen der Fußbodendielen und kam nie wieder hervor. Wie Wachs schmolz ihre Haut und legte sich als unsichtbarer Film über den gesamten Boden. In einer großen Wolke zerstob ihr Skelett. Einzig die schwarze, verwelkte Rose hätte ihre vorige Existenz verraten können.
Doch nie hatte sie jemand bemerkt. Nie hatte jemand von ihr Notiz genommen. Als sie gestorben war, hatte sie ihre Seele gegen die schwarze Rose eingetauscht, um so vielleicht doch noch Schönheit in ihrem Leben zu finden, Liebe, Geborgenheit. Aber ihre Existenz blieb gänzlich unbemerkt. Eigentlich war sie schon seit ihrer Geburt, spätestens seit dem Zeitpunkt, an dem ihre Mutter sie im Wald ausgesetzt hatte, tot gewesen. Zum Tode verurteilt. Geboren, um des Todes Tochter zu sein.

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