Rebell

»Wir sind wie Maschinen, wir müssen funktionieren. Einfach nur funktionieren«, geistert ihre Stimme immer wieder durch meinen Kopf. Es waren ihre letzten Worte gewesen, bevor sie abge­führt wurde. Sie hatte ihre Meinung kundgetan und bezahlte dafür mit ihrem Leben.
Nun stehe ich an ihrer Stelle. Wie alle anderen Menschen starre ich nach vorne auf dieses Podest, auf dem eine Menschengruppe, gehüllt in feine Kleider, steht. Nur das Nötigste weiß ich über sie, aber das reichte, um mir ein Urteil über sie zu bilden. Nicht umsonst stehen sie erhöht auf diesem Podest, das es ihnen ermöglicht, auf den Pöbel nieder zu schauen. Sie regieren uns, sie beherrschen uns, sie haben die Kontrolle über unser aller Leben. Mit wilder Mimik und merkwürdigen Zeichen brüllen einige von ihnen in ein Mikrofon. Sie wollen uns etwas mitteilen. Doch ich höre nicht zu.
»Maschinen. Funktionieren. Einfach nur funktionieren.« Die Erinnerungen nehmen kein Ende. Einfach zu groß ist der Schmerz, wieder hier, an dem Ort zu stehen, an dem sich mir die Augen ge­öffnet hatten und sich damit auch mein restliches Schicksal besiegelte. Aber eine Wahl habe ich nicht. Jeder der nicht zu dieser Versammlung erscheint, macht sich verdächtig.  Wie einen Zauberspruch wiederholen die Menschen um mich herum in genau dem gleichen Rhythmus und dem gleichen Sprechgesang die Worte dieser Gruppe. Die Leute empfinden es als unterhaltsam und klatschen mit, doch in Wahrheit dient diese Methode nur dazu, um die Ideologien dieser Gruppe fester in der Menschen Köpfe einzubrennen.
Aber ich weigere mich und denke fest daran, dass mich unter dieser Menschenmenge schon niemand entdecken wird, dass nicht auffallen wird, dass einer nicht mitmacht. Kurz darauf werde ich zart und dennoch bestimmt von der Seiten angestoßen. Ich kenne den Mann nicht, aber er bedeu­tet mir, dass ich mitmachen sollte. Zaghaft bewege ich nun meine Lippen mit, aber meine Laute bleiben stimmlos.
»Maschinen. Maschinen!«, dröhnt es immer lauter und je länger ich in dieser Menge stehe, desto klarer sehe ich es. Ich bin auch nur eine Maschine; eine willenlose Puppe, die aus lauter Angst alles befolgt, was diese Gruppe uns befiehlt. Sie hatte Recht gehabt. Die Worte meiner Mutter enthielten die pure Wahrheit! Und die, die nicht gehorchten? Die, die den Mut haben, das auszusprechen, was sie denken? Die können nicht schnell genug gucken, bis ihnen ihre Gliedmaßen um die Ohren fliegen.
»Nein!«, schreie ich so lange und gedehnt, bis mir die Luft wegbleibt. Nicht länger bin ich fähig, mich dem Druck meiner Gedanken zu beugen. Bin nicht mehr stark genug, um weiter in diesem Ge­menge aus Lügen zu leben. Aber sobald ich dieses Wort ausgesprochen habe, weiß ich, dass mein Leben ein Ende gefunden hat. Sie dulden keine Rebellen. Und nun bin ich einer, weil ich mich ihrem Willen widersetze. Genauso wie meine Mutter würde ich auch sterben. Wenigstens habe ich ein gutes Gewissen, zu­mindest etwas getan zu haben.
Die anderen Leute drehen sich aufgrund meines gewaltigen Aufschreis sofort zu mir um. Viele wenden sich gleich danach wieder ab, aber noch mehr blicken mich entsetzt an. Und selten, ganz selten, blitzen mir auch einige traurige Antlitze entgegen, doch sie waren so rar, so verstreut, als ob man ein vierblättriges Kleeblatt auf einer weiten Wiese suchen würde.
Meine Mutter war einst eine sehr weise Frau gewesen. Sie hatte das Unrecht, das uns allen angetan wird, erkannt und wollte etwas dagegen tun. Natürlich konnte meine Mutter nicht direkt et­was unternehmen, denn der Machtapparat, der ihr gegenüber stand, war zu mächtig, aber sie hatte die Menschen bewegt, ohne deren Zustimmung die kleine Gruppe nicht derartig herrschen könnte. Ihr Tod hat einige Menschen nachdenklich gemacht. Und an sie denke ich, als ich diese traurigen Gesichter sehe. Sicher sind sie nicht wegen mir traurig, schließlich kennen sie mich nicht, aber sie sind traurig, dass nun eine weitere Person dem Regime zum Opfer fallen würde. Ich sehe es ihnen an, dass sie genauso denken wie ich, aber zu schwach und zu feige sind, um es auszusprechen. Doch ich kann es ihnen nicht verübeln, denn auch ich habe Angst. Mein Körper zit­tert, als mich einige der Menschen vom Podest aus direkt fixieren. Ihre eiskalten Masken starren mich wütend an, aber ich zeige keine Schwäche. Diese Genugtuung gebe ich ihnen nicht. Alles kann man dem Menschen nehmen. Sein Hab und Gut, seine Familie, Freunde und seinen Körper. Aber nicht seine Gedanken.
Schnell wurden die Menschen zurechtgewiesen, sich wieder umzudrehen. Niemand durfte mich noch anschauen, denn nur sie zählen. Ihnen soll die volle und uneingeschränkte Aufmerksamkeit gelten, nicht mir. Morgen bin ich ausradiert. Ausgelöscht. Habe niemals existiert. Meine Knie zittern, doch noch stehe ich. Ich warte darauf, abtransportiert zu werden oder direkt erschossen zu werden, aber nichts kommt. Stattdessen bemerke ich, wie die Menge sich plötzlich erhebt. Sie folgt nicht den Anweisungen, nein, sie hat ihren eigenen Willen. Plötzlich ertönt ein wei­terer Schrei. Und noch einer! Immer mehr Leute erheben sich und protestieren.
»Es liegt an euch, an eurem Tun und Streben, ob wir gestorben oder ob wir ewig leben«, schreie ich laut in die Menge. Es ist ein Zitat eines alten Kriegerdenkmals. Als Kind habe ich nie verstanden, worum es dabei geht. Nun weiß ich es.
Tief atme ich ein und genieße dieses kurze Gefühl, nicht alleine zu sein. Man kann nicht planen, ob und wann man ein Held wird. Das ist eine Entscheidung binnen weniger Sekunden. Mitten im Tumult stehe ich nun als Urheber dieses Aufbegehrens und als Urheber bin ich es nun, der die Kon­sequenzen dafür tragen muss, als eine Kugel sich tief durch meinen Körper bohrt. Zweifellos gilt dieser Schuss mir. Meine Knie geben nach. Schwarz breitet sich vor meinen Augen aus. Jedoch bekomme ich noch nicht, wie innerhalb von wenigen Sekunden der Aufruhr niedergeschlagen wird. Einige Leute werden abgeführt und andere mit Waffen bedroht. Schon nach kurzer Zeit stehen alle wieder in Reih und Glied.
Ja, wir sind Maschinen, die nur zu funktionieren haben. Aber uns ab und zu dagegen zu wehren – das macht uns menschlich. Mein Leben ist vorbei, unwiderruflich. Aber die Hoffnung auf Besse­rung wird weiterleben. Die Unterdrückung wird niemals siegen.

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